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Wahre Verbrechen „Zimperlich darf man nicht sein“

Was macht es mit Menschen, Jahrzehnte in der Illegalität zu leben? Ein Kriminalpsychologe spricht über gute Schauspieler, authentische Augenblicke und Zweckfreundschaften unter Terroristen.
30.09.2022, 05:00 Uhr
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„Zimperlich darf man nicht sein“
Von Sebastian Krüger

Professor Egg, was macht es mit Menschen, über eine lange Zeit im Untergrund zu leben?

Rudolf Egg: Man stattet sich mit falschen Papieren aus, hat einen anderen Namen, lebt diese neue Identität und nimmt sie an. Man lebt nicht in einer Höhle, völlig außerhalb der Wirklichkeit, sondern hat Nachbarn und Bekannte im Viertel. Man lebt, ist aber nicht der, der man mal war. Jedenfalls in der Außenwahrnehmung.

Wie echt und normal fühlt sich der Alltag für Untergetauchte wohl an?

Ich kann da nur Vergleiche ziehen. Etwa zu Personen, die unter falscher Identität als Betrüger gelebt haben. Manche sagten: „Zeitweise war das so, dass ich selber daran geglaubt habe, obwohl alles nur erfunden war.“ Die haben es so stark verinnerlicht, dass sie sich einen Ruck geben müssen: Bin ich das oder bin ich das nicht? Was aber nicht heißt, dass sie es nicht wirklich wüssten – im nächsten Augenblick kann es wieder völlig klar sein. Man kann offenbar sehr tief in eine Rolle eintauchen. Und dann ist es nicht nur für andere nicht feststellbar, sondern auch für einen selbst.

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Wechseln Untergetauchte die Rollen, wenn sie unter sich sind und keine Nachbarn zuhören?

Wahrscheinlich schon, so ganz kann man das nicht ablegen. In der internen Kommunikation werden sie sich schon noch an die alten Zeiten erinnern. Vielleicht ist es so wie bei einem Klassentreffen, wenn man nach 30 oder 40 Jahren die alten Kameraden sieht und für einen Moment wieder nebeneinander auf der Schulbank sitzt. Das ist Nostalgie, ein Stück Vergangenheit, das man teilt. Aber das spielt für die jetzige Zeit keine große Rolle.

Stellt sich in einem so unsicheren Leben jemals Normalität ein?

Es mag da schon Momente der Unsicherheit geben, aber die werden selten sein. Und je seltener sie sind, desto mehr nimmt man diese neue Wirklichkeit als Normalität an.

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Wie könnte die Dynamik unter den Dreien aussehen?

Die Gruppierungen innerhalb der RAF waren mal echte freundschaftliche Beziehungen und mal eher Zweckgemeinschaften. Wenn sie sich schon lange kennen, können sie befreundet sein. Müssen sie aber nicht, wenn die Gemeinschaft sich aus der Not heraus entwickelt hat und einem gemeinsamen Nutzen dient. Man hält zusammen, aber muss sich nicht unbedingt mögen.

Was für Eigenschaften braucht es, um lange in der Illegalität zu leben?

Eine gewisse Ausdauer, Robustheit, vielleicht auch Abgebrühtheit gegenüber belastenden Situationen. Zimperlich darf man nicht sein. Die Fähigkeit, zu tarnen und zu täuschen, also ein betrügerisches Verhalten an den Tag zu legen, ist wichtig. Denn ein Großteil muss geschauspielert werden, wenn man sich als jemand anderes ausgibt.

Die NSU-Terroristen machten regelmäßig Urlaub, freundeten sich mit ihren Nachbarn auf dem Campingplatz an und besuchten sie teilweise sogar zu Hause. Waren das authentische Augenblicke, trotz falscher Namen und erfundener Biografien?

Ich denke schon, dass Menschen in so einer Situation zwei Leben haben, ohne das eine als Schauspielerei aufzufassen und das andere als echt. Das sind eher zwei Seiten einer Medaille. In dem sozialen Kontext bin ich unauffällig und normal und in anderen spähe ich als Rechtsextremist potenzielle Tatorte aus. Die sind sich zu jeder Zeit bewusst, was sie machen, aber sie trennen es geschickt. Das muss man auch nicht pathologisch sehen: Beide Rollen können echt sein. Viele Menschen spielen in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche Rollen, ohne krank zu sein und sich spalten zu müssen. Sie müssen den freundlichen Nachbarn beim gemeinsamen Grillen daher nicht spielen, sie sind es.

 

Das Gespräch führte Sebastian Krüger.

Zur Person

Rudolf Egg, 74, ist Psychologe mit dem Schwerpunkt Kriminalpsychologie. Von 1997 bis 2014 leitete er die Kriminologische Zentralstelle des Bundes und der Länder (KrimZ) in Wiesbaden.

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