Der 6. Juni 2015 ist ein milder Frühlingstag in Groß Mackenstedt. Wolken ziehen über den Himmel bei Temperaturen um die 20 Grad. Zur Mittagszeit am Sonnabend herrscht auf dem Supermarktparkplatz das übliche Treiben. Aber was dann passiert, passt so gar nicht zu dem beschaulichen Stuhrer Ortsteil mit gut 3000 Einwohnern: Ein weißer VW-Bus rast heran, stoppt abrupt und blockiert den schwarzen Van einer Sicherheitsfirma. Die beiden Boten holen gerade, wie jeden Tag, das Geld aus der Supermarktkasse ab. Etwa eine Million Euro sind es diesmal. Zwei Maskierte im Tarnanzug stürmen aus dem Bulli und bedrohen die Geldtransporteure. Ein weiterer kommt mit einem silbergrauen Ford Focus hinzu. Mit Schnellfeuergewehren und einer Panzerfaust bewaffnet fordern sie die Geldboten auf, die Türen zu öffnen und die Tageseinnahmen herauszugeben. Als ihre Forderung nicht erfüllt wird, feuert einer der Täter mit einer Kalaschnikow drei Schüsse ab, die im gepanzerten Fahrzeug stecken bleiben. Die Maskierten fliehen ohne Beute im silbernen Kombi und hinterlassen geschockte Zeugen.
Das Fluchtauto stellen sie in einem Wald ab, wo es die Polizei kurze Zeit später entdeckt. Die weitere Spur verliert sich an dieser Stelle. Zunächst jedenfalls. Was aussieht, wie ein spektakulärer, aber im Grunde doch recht gewöhnlicher versuchter Raubüberfall, nimmt durch DNA-Spuren vom Tatort eine unerwartete Wendung. Der Überfall aus Stuhr bei Bremen führt Jahrzehnte in die Vergangenheit Deutschlands zurück in eine Zeit des Umbruchs, der politischen Gewalt – die Zeit der Roten Armee Fraktion (RAF). Im verlassenen Gebrauchtwagen finden Ermittler DNA-Spuren von Daniela Klette (63), Ernst-Volker Staub (67) und Burkhard Garweg (54). Das setzt den gescheiterten Überfall nicht nur in Verbindung zu anderen Taten ähnlicher Handschrift – das genetische Material ist identisch mit Spuren, die am Ort des letzten großen Anschlags der RAF gefunden wurden.
Am 27. März 1993 dringen mindestens drei Männer und eine Frau in die neugebaute JVA Weiterstadt in Hessen ein, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Insassen beheimatet. Sie überrumpeln die Wachleute, fesseln sie und stellen sie in einem Lieferwagen einige Hundert Meter entfernt ab. 200 Kilogramm Sprengstoff explodieren und verwüsteten den Neubau vollkommen. Der offenbar minutiös geplante und professionell durchgeführte Anschlag führt zu einem Sachschaden in Höhe von bis zu 90 Millionen D-Mark. Erst vier Jahre später wird die JVA eröffnet. Ermittler finden DNA-Spuren unter anderem von Klette und Staub. Es ist der letzte große Anschlag der RAF vor ihrer Auflösung fünf Jahre später.
Klette und Staub sollen ein Pärchen sein. Mit dem deutlich jüngeren Garweg gehörten sie zur dritten RAF-Generation. Die Anführer der ersten Generation um Andreas Baader und Ulrike Meinhof hatten sich in Haft umgebracht, die Führungsebene der zweiten Generation um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar saß im Gefängnis. Mehrere, zum Teil nicht aufgeklärte Morde sollen auf das Konto der Gruppe um Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams gehen, darunter die am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen 1989 sowie am Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder 1991. Anders als die Gründer der Organisation hinterließen die „Enkel“ kaum verwertbare Spuren an den Tatorten. Auch über die Kommandostruktur ist weitaus weniger bekannt.
Die Biografien der Räuber sind typisch für radikalisierte junge Menschen der damaligen Zeit. Staub schließt sich spätestens 1983 der RAF an und wird später unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu vier Jahren Haft verurteilt. 1990 taucht er erneut unter – bis heute. Klette ist in verschiedenen Gruppen und Bewegungen aktiv und geht 1989 in den Untergrund. Garweg radikalisiert sich Ende der 1980er-Jahre im Umfeld der Hamburger Hafenstraße und taucht kurz darauf unter.
Die Überfälle, die dem Trio zur Last gelegt werden, beginnen 1999 in Duisburg und enden – bislang – 2016 in Cremlingen bei Braunschweig. Da das Gros der Taten in Niedersachsen verübt wird, leitet das hiesige Landeskriminalamt (LKA) in Hannover die Ermittlungen zusammen mit der Staatsanwaltschaft Verden. „Zum Stand der Ermittlungen und den aktuellen Fahndungsmaßnahmen kann aus ermittlungstaktischen Gründen keine Aussage getroffen werden“, teilt LKA-Pressesprecher Philipp Hasse auf Anfrage mit. Die Bundesanwaltschaft, die bei Staatsschutzdelikten ermittelt, wurde bislang nicht hinzugezogen. Denn auch wenn das Trio einen terroristischen Hintergrund hat und wegen politischer Straftaten gesucht wird, ist die Serie an Raubüberfällen nicht als ideologisch motiviert eingeordnet. Die Raubüberfälle dienen wohl nicht, wie nach der Tat in Duisburg zunächst befürchtet, dem Aufbau einer vierten Generation. Statt bewaffnetem Kampf finanzieren die Drei mit ihren Taten eher das kostspielige Leben in der Illegalität.
An Hinweisen mangelt es den Ermittlern nicht: Hasse zufolge sind über die Jahre mehr als 2300 eingegangen, darunter 206 im Jahr 2020. Allesamt ohne Erfolg. „Alle hier eingegangenen Hinweise führten bisher nicht zu einer Lokalisierung der Gesuchten“, sagt er. Dabei gehören sie nicht nur zu den meistgesuchten Kriminellen Deutschlands: Als deutsche Behörden die Drei im Mai 2020 auf die „Europe‘s Most Wanted“-Liste setzen, stehen erstmals deutsche Straftäter auf der Fahndungsliste der meistgesuchten Schwerverbrecher und Terroristen von Europol. Wie Hasse berichtet, gehen daraufhin 100 Hinweise aus 14 Nationen ein. Gefunden werden die Drei jedoch noch immer nicht.
Theorien, wie das Trio es seit Jahrzehnten schafft, unerkannt zu bleiben, kommen recht vage daher. „Vonseiten des LKA Niedersachsen wird davon ausgegangen, dass sich die Gesuchten unter Verschleierung ihrer wahren Identität verborgen halten“, sagt Hasse dazu. Ein Aufenthalt im Ausland könne nicht ausgeschlossen werden. Entsprechende Hinweise gibt es bereits mehrfach: 2017 gibt ein deutscher Urlauber an, einen der Gesuchten auf einem Campingplatz bei Venedig gesehen zu haben. Diese Spur verläuft im Sand. Aber auch die Niederlande kommen als Aufenthaltsort in Betracht. Ein Mobiltelefon, mit dem die Täter Kontakt zu einem Autohändler aufgenommen haben sollen, wird 2012 dorthin zurückverfolgt. Zudem findet die Polizei nach dem bislang letzten Überfall in Cremlingen 2016 im Fluchtwagen Fetzen einer niederländischen Zeitung. Die dortige Polizei nimmt Ermittlungen auf. Nach einem Aufruf im Fernsehen 2017 gehen zwar einige Hinweise bei den niederländischen Behörden ein, aber wieder keine heiße Spur.
Das Vorgehen der Drei ist, soweit bekannt, routiniert und professionell. Mit mehreren Monaten Vorlauf kaufen sie einen günstigen Gebrauchtwagen unter falschem Namen gegen Barzahlung. Manchmal mehrere, um sie nach kurzer Zeit zu wechseln. Die Tatorte spähen sie vermutlich über längere Zeit aus. Sie beobachten die Abläufe, Eingänge, Fluchtmöglichkeiten. Überfallen sie einen Supermarkt oder ein Geschäft, drängen sie einen Angestellten mit vorgehaltener Waffe, aber laut Zeugenaussagen meist ruhig und besonnen in den Tresorraum und fordern die Herausgabe der Einnahmen, ehe sie schnell durch einen Seitenausgang verschwinden und den Fluchtwagen nach kurzer Zeit entsorgen. Schüsse und Eskalation hat es bisher nur in Stuhr gegeben. Daher ermittelt die Polizei in diesem Fall zusätzlich wegen versuchten Mordes. Die Zeit zwischen den Überfällen hängt anscheinend mit der Beute der vorherigen Tat zusammen. Dass diese beim bislang letzten Raub 2016 600.000 Euro beträgt, erklärt die lange Pause seitdem.
Die drei Verdächtigen sind den Behörden hinlänglich bekannt, aber seit Jahrzehnten wie vom Erdboden verschluckt. Phantome, die alle paar Jahre für einen Überfall aus der Versenkung auftauchen und anschließend genauso schnell wieder verschwinden. Zwei Männer und eine Frau, mittlerweile zwischen 54 und 67 Jahre alt, die ihr halbes Leben – in Garwegs Fall sogar deutlich mehr – in der Illegalität verbringen. Ein Alltag zwischen falschen Namen, ahnungslosen Nachbarn, Taschen voll geraubtem Bargeld und der stetigen Unsicherheit, wie lange das noch gut geht. Wie können international gesuchte Schwerverbrecher einfach verschwinden und unbehelligt über Jahrzehnte ein freies, wenn auch verstecktes Leben führen? Garweg, Klette und Staub hinterlassen nicht nur Angst und Schrecken im Nordwesten, sondern auch viele offene Fragen. Fragen, auf die wohl erst dann Antworten gefunden werden, wenn das Trio den Ermittlern doch noch ins Netz geht.