Eine spontane Reise eröffnet neue Perspektiven. An diesem Freitagnachmittag steht Cate Halmagyi am Mahnmal Obernheide in Stuhr und blickt auf die Steinskulptur. "Es hilft mir, die Vergangenheit zu verstehen und für die Zukunft zu planen, während ich in der Gegenwart lebe", sagt die 51-jährige Australiern nachdenklich. Vor 81 Jahren, im Jahr 1944, war ihre Großmutter, Alice Halmagyi (geborene Timar) Insassin des Außenkommandos des Konzentrationslagers Neuengamme. Sie war damals etwa 22 Jahre alt.
Bisher hat Cate Halmagyi nur wenig über die Vergangenheit ihrer Großmutter gewusst. "Sie hat nie über das gesprochen, was passiert ist", schildert die Enkelin. So war in der Familie lediglich bekannt, dass sie in Auschwitz inhaftiert war und aus dem Konzentrationslager nach Hause zurückkehrte. Die Frage, was passiert war, habe immer in ihrem Hinterkopf geschwebt, sagt die 51-Jährige. Als sie kürzlich von Sydney nach Schweden reiste, wo sie mehrere Jahre gearbeitet hat, seien die Gedanken immer präsenter geworden.
Eine spontane Idee
Aus dem Flugzeug heraus schrieb Halmagyi mehrere E-Mails und fand prompt Unterstützung bei ihrer Recherche. Fast vier Wochen lang bewegte sie sich nun auf den Spuren ihrer Großmutter. Gestartet in Budapest reiste sie in die ungarisch-rumänische Grenzregion, wo Alice Timar aufwuchs. "Ich habe Menschen getroffen, die sie kannten, und Verwandte", beschreibt sie. Über Auschwitz, Bergen-Belsen und Bremen fand Halmagyi schließlich nach Stuhr als letztem Stopp in der unbekannten Leidensgeschichte ihrer Großmutter.
Für die Enkelin ist klar: "Niemand von uns wird verstehen, was sie durchgemacht hat." Gleichwohl helfe ihr die Recherche, die eigenen Familienverhältnisse besser zu verstehen. Die Beziehung zwischen der Großmutter und dem Vater, zwischen dem Vater und ihr selbst. Denn die Verschwiegenheit sei schwierig für die gesamte Familie gewesen.
Einer ihrer Unterstützer war Hartmut Müller. Der Stuhrer hat von 1975 bis 2000 das Staatsarchiv in Bremen geleitet und die Geschichte des früheren Außenkommandos Obernheide aufgearbeitet. Er hatte mit Alice Halmagyi in den 1980er-Jahren im Zuge seiner Arbeit Kontakt. "Ich denke, das ist der einzige Kontakt, den meine Großmutter mit irgendjemandem dazu hatte", sagt die Enkelin, die erst kürzlich davon erfahren hat. Bei einem Treffen zeigte Müller ihr am Freitag die Originalbriefe.

Hiltraud Müller und Cate Halmagyi am Mahnmal Obernheide.
So erfuhr sie, dass die Großmutter, damals noch Medizinstudentin, im September 1944 nach Obernheide kam. Zuvor war sie nach Auschwitz deportiert worden und dann Teil jener Gruppe gewesen, die vom Bremer Senat als Arbeitskräfte angefordert wurde. Nach einem Angriff auf eine Unterkunft in Bremen wurden die Frauen in das Stuhrer Arbeitslager gebracht, das ursprünglich für Arbeitskräfte der Autobahn dienen sollten. In einem Lazarett versorgte Alice Halmagyi dann kranke Frauen.
3,5 Kilometer Fußmarsch
Die Zwangsarbeiterinnen mussten jeden Tag einen rund 3,5 Kilometer langen Fußmarsch zum Bahnhof zurücklegen, um dann in Bremen Trümmerteile zu räumen und in einem Betonsteinwerk arbeiten. Stuhrer Schulen erinnern jährlich mit einem Gedenkmarsch an dieses dunkle Kapitel der Gemeindegeschichte und frischen die Steinplatten am Mahnmal mit den Namen der Opfer auf.
Nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen kehrte Alice Halmagyi zunächst nach Ungarn zurück, zog später nach Cardiff, bis sie 1958 den Kontinent verließ. "Sie kam für eine Zukunft nach Australien und für ihren Sohn, um ein neues Leben zu beginnen", sagt die Enkelin.
Eine überwältigende Erfahrung
Die Australierin wertet es als positives Zeichen, dass sich Deutschland mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. "Die Gesellschaft hat sich entwickelt", so ihr Eindruck. Zumal sie durch ihre Recherchen zahlreiche Menschen getroffen habe, denen so sonst wahrscheinlich nie begegnet wäre. "Auf der persönlichen Ebene ist das eine wirklich positive Erfahrung", sagt Halmagyi und spricht von zahlreichen überwältigenden Momenten in den vier Wochen.
Durch die Reise habe sich für sie auch gezeigt, wie unterschiedlich sich die verschiedenen Generationen erinnerten. Der zeitliche Abstand zu den Gräueln mache es ihr einfacher als beispielsweise ihrem Vater, der noch in Ungarn aufwuchs, sich aktiver mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Sowohl für sie selbst als auch durch die fortwährende Aufarbeitung durch die deutsche Gesellschaft sei nun genau der richtige Zeitpunkt für so eine Reise gewesen. "Wenn ich das vor zehn oder 20 Jahren gemacht hätte, wüsste ich jetzt wahrscheinlich nichts", sagt Halmagyi.
Für Stuhrs Bürgermeister Stephan Korte ist Halmagyi die erste Nachfahrin einer Überlebenden, die er am Mahnmal in Oberheide treffen durfte. "Ich habe ein Gefühl dafür, wir das Leben der Menschen verändert und über Generationen belastet", sagt er mit Blick auf die Gräueltaten, die die Nationalsozialisten verübt haben. Für viele Familien von Opfern sei das Thema ganz aktuell. Umso bedeutsamer seien Anlaufstellen wie das Mahnmal in Obernheide oder jüngst die Verlegung zweier Stolpersteine in Stuhr: "Das hat alles seine Bewandtnis." Den Nachfahren hülfen solche Orte, die eigenen Großeltern und Eltern besser zu verstehen – Cate Halmagyi sei ein Beispiel dafür.