Wenn Claus Ahlers vor sein Haus tritt, hat er einen traumhaften Ausblick. Gleich gegenüber liegt eine große Ackerfläche, ein Stück dahinter Wald. Ahlers führt einen Hof in Gessel im Kreis Diepholz. Auf 75 Hektar baut er zwischen Syke und Nordwohlde Getreide an, Kartoffeln und Raps. Als konventioneller Landwirt, sagt er, sei er darauf angewiesen, auf seinen Feldern auch Pflanzenschutzmittel ausbringen zu dürfen. „Aber wir machen nur das Nötigste“, sagt er. Und bisher war das auch nie ein Problem. Weil angrenzende Flächen seit gut eineinhalb Jahren aber als sogenanntes Natura-2000-Gebiet, also als Schutzgebiet, ausgewiesen sind, fragt sich der 42-Jährige seit einiger Zeit, wie lange er wohl noch so arbeiten darf wie bisher.
Während Ahlers mit dem WESER-KURIER telefoniert, treten im 400 Kilometer entfernten Berlin Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) und Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) vor die Mikrofone. Die beiden Politikerinnen verkünden in der Hauptstadt, dass das Bundeskabinett das Gesetzespaket zum Insektenschutz beschlossen und die Änderungen der sogenannten Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung auf den Weg gebracht hat.
Das bedeutet, dass unter anderem Biotope wie Streuobstwiesen und artenreiches Grünland für Insekten als Lebensräume erhalten bleiben. Die Pflanzenschutzverordnung regelt unter anderem den Einsatz des umstrittenen Herbizids Glyphosat. Die Anwendung soll zunächst stark eingeschränkt und ab 2024 ganz verboten werden. In Schutzgebieten sind ebenfalls Verbote für andere Pflanzenschutzmittel vorgesehen.
Bundesumweltministerin Schulze verteidigt die Beschlüsse am Mittwoch und nennt sie „eine gute Nachricht für die Insekten und die Zukunft unserer Ökosysteme“. Umweltverbände wie Nabu und BUND reagieren mit Zustimmung. Die Landwirte sehen das anders, immer noch. Hinter ihnen liegen aufreibende Wochen. In nahezu allen Bundesländern haben sie seit dem Wochenende Treckerproteste organisiert. Schon seit Ende Januar halten Bauern im Berliner Regierungsviertel trotz Schnee und Kälte Mahnwache.
Sie kritisieren sie die Pläne der Regierung scharf. Es ist von Enteignung die Rede. Davon, dass das geplante Gesetz ihnen ihre wirtschaftliche Grundlage raube. In Niedersachsen würden nach Berechnungen des Landvolks Niedersachsen bis zu 160.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche und weit mehr als 100.000 Hektar private Waldfläche von gravierenden Bewirtschaftungsbeschränkungen betroffen sein.
Am frühen Mittwochmorgen, noch bevor Klöckner und Schulze an die Öffentlichkeit treten, schaut Bauernpräsident Joachim Rukwied am Kanzleramt vorbei und posiert für die Fotografen und Kameraleute mit einem alten Pflug, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Kooperation statt Gebote“ und #Insektenschutzgehtbesser angebracht ist. Ein paar Stunden später erklärt Holger Hennies, wie es besser hätte gehen können. Hennies ist Präsident des Niedersächsischen Landvolkes und sagt: „Wir in Niedersachsen haben doch gezeigt, wie man es richtig macht.“
In Niedersachsen sind die Landesregierung, Naturschutzverbände und Landwirte Ende des vergangenen Jahres den sogenannten Niedersächsischen Weg gegangen. Gemeinsam haben sie Maßnahmen für einen verbesserten Natur-, Arten- und Gewässerschutz beschlossen. „Mit klaren Auflagen, mit freiwilligen Vereinbarungen“, wie Hennies sagt und ganz entscheidend, „mit finanziellen Ausgleichszahlungen für die Betroffenen.“ Gesetzlich klar geregelt. Denn die Landwirte verlieren auch beim Niedersächsischen Weg Flächen.
Landwirt Ahlers aus Gessel sagt, dass ihm Insektenschutz nicht egal sei. Auf einem Hektar seiner Fläche hat er schon vor Jahren eine Bienenweide angelegt. Er habe dort, erzählt er, nektarreiche Pflanzen ausgesät, 30 verschiedene Arten, darunter „Salbei, Kamille, Sonnenblumen“. Davon haben nicht nur die Insekten etwas, sondern auch Ahlers selbst, der dafür Direktzahlungen der EU in Anspruch nehmen kann. Es ist dieses Geben und Nehmen, das die Landwirte beim Insektenschutzpaket vermissen.
Zwar bringt Landwirtschaftsministerin Klöckner, die im Vorfeld mit ihrer Kollegin Schulze heftig über mehrere Details gestritten hat, Entschädigungen, die Möglichkeit von Ausnahmen oder eine Länderöffnungsklausel ins Spiel, damit beispielsweise Initiativen wie der Niedersächsische Weg fortgeführt werden können, aber Bauernpräsident Hennies überzeugt das nicht. Er nennt Öffnungsklauseln und mögliche Ausgleichsregelungen „juristisch äußerst wackelig“, er wisse nicht, wie beispielsweise die EU diese Frage bewerte. Für Hennies steht fest: „Die Pläne des Kabinetts geben uns Landwirten keine Sicherheit“.
Niedersachsens Nabu-Chef Holger Buschmann interpretiert die Beschlüsse vom Mittwoch anders. Er freut sich und sagt: „Grundsätzlich gibt es in dem Gesetz Möglichkeiten für die Länder, bei bestimmten Punkten eigene Regelungen zu treffen.“ Er sieht den Niedersächsischen Weg nicht gefährdet.
Im nächsten Schritt beraten der Bundestag über das Insektenschutzgesetz und der Bundesrat über die Verordnung. Die Bauern hoffen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Landwirt Ahlers sagt, dass er den Kollegen, die in Berlin die Stellung halten, dankbar sei. „Hut ab für jeden von ihnen“, sagt Ahlers. Das Thema wird sie alle noch länger beschäftigen. Und tatsächlich: Die ersten Vereinigungen wie die Freien Bauern kündigen am Nachmittag für die nächste Zeit schon „erbitterten Widerstand“ an.