Herr McAllister, laut einer Studie der Forschungsplattform EUMatrix.eu sind Sie einer der einflussreichsten EU-Parlamentarier im Bereich der Außenpolitik. Was bedeutet das für Sie?
David McAllister: Diese Forschungsplattform hat vor drei Monaten eine Liste der 100 einflussreichsten Abgeordneten des Europäischen Parlaments veröffentlicht und mich dabei insgesamt auf Platz 13 von 705 Abgeordneten eingestuft, in der Außen- und Sicherheitspolitik auf Platz zwei. Das ist eine schöne Anerkennung meiner Arbeit in Brüssel und Straßburg.
Die deutsche Delegation gilt als die einflussreichste im Europaparlament. Wird bei den anderen Ländern eine deutsche Dominanz wahrgenommen?
Deutschland hat insgesamt 96 Abgeordnete, 29 von ihnen gehören als Abgeordnete von CDU und CSU der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, an. Verglichen mit anderen nationalen Delegationen sind das relativ viele Abgeordnete. So können wir mindestens einen unserer Kolleginnen und Kollegen in jeden Ausschuss entsenden. Das erleichtert die inhaltliche Arbeit sehr, weil es so in jedem Thema einen Fachpolitiker der Union gibt. Von deutscher Dominanz kann allerdings keine Rede sein. Die Anzahl der Abgeordneten bemisst sich grob an der Einwohnerzahl eines jeden Mitgliedstaates nach dem Prinzip der sogenannten degressiv proportionalen Repräsentation. Dieses hat zur Folge, dass kleine Länder im Verhältnis besser repräsentiert werden – ein Beispiel: Deutschland hat knapp 84 Millionen Einwohner und 96 Europaabgeordnete. Malta hingegen hat mit einer Einwohnerzahl von rund 530.000 Menschen sechs Abgeordnete. Das ist ein enormer Unterschied.
In der Ukraine tobt seit Jahren ein Krieg. Sehen Sie eine baldige Chance auf Frieden und wie könnte dieser erreicht werden?
Ein Krieg kann durch Waffenstillstandsverhandlungen zu Ende gehen, sofern beide Seiten zu der Erkenntnis kommen, dass sie mit militärischen Mitteln ihre Ziele nicht mehr durchsetzen können. Stand heute hat der Kreml keine glaubhaften Signale gesendet, dass er tatsächlich an Dialog oder Diplomatie mit der Ukraine, der Europäischen Union oder dem politischen Westen interessiert ist. Der Kreml bietet Verhandlungen nur zu seinen inakzeptablen Bedingungen an. Das Putin-Regime hat zur Voraussetzung für Verhandlungen gemacht, dass die Ukraine die besetzten Regionen als russisches Staatsgebiet anerkennt. Das betrifft neben der Krim die vier illegal annektierten Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson und somit fast 15 Prozent des ukrainischen Territoriums. Das wäre eine Kapitulation und keine Verhandlung. Daher scheint derzeit die realistischste Option zu sein, dass die Ukraine Russland militärisch so stark unter Druck setzt, dass es Verhandlungen ohne Vorbedingungen zustimmt. Unter keinen Umständen darf und wird der Kreml der Ukraine einen Diktatfrieden unter russischen Bedingungen aufzwängen.
Die EU hat immer neue Sanktionen gegen Russland beschlossen. Treffen diese nicht auch eher die deutsche und europäische Wirtschaft?
Die USA, die EU und weitere Partner haben historische Sanktionspakete gegen die Russische Föderation erlassen. Einige dieser Sanktionen können durch den russischen Leistungsbilanzüberschuss aus den Energieeinnahmen sowie durch die strengen Beschränkungen der russischen Kapital- und Devisenmärkte teilweise ausgeglichen werden. Das aktuelle russische Wachstum begründet sich jedoch vor allem in der Produktion von Rüstungsgütern und den massiven staatlichen Investitionen in die Militärinfrastruktur. Der Kreml hat in Sektoren mit ausgesprochen niedriger Produktivität investiert. Das wird langfristig negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit haben. Um diesen absehbaren Negativtrend der russischen Wirtschaft weiter zu beschleunigen, sind unsere Sanktionen neu zu justieren und zu verbessern. Das Ölembargo und die Einführung der Preisobergrenzen haben eine starke Wirkung gezeigt und einen unmittelbaren Effekt gehabt. Schätzungen zufolge kostete der erste Monat des Ölembargos und der Preisobergrenze Moskau etwa 160 Millionen Euro pro Tag – das entspricht einem Rückgang der Einnahmen aus dem Export fossiler Brennstoffe um 17 Prozent. Wichtig ist, dass wir die Schlagkraft der bestehenden Sanktionspakete auch künftig nicht aus den Augen verlieren. Viele der Sanktionen werden weiterhin zu oft umgangen. Die Schlupflöcher sind endlich zu schließen. Der russische Bezug von Hightech-Komponenten für die Rüstungsindustrie über Drittstaaten muss effektiver unterbunden werden.
Halten Sie eine gemeinsame Verteidigungspolitik der EU für sinnvoll?
Ja. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass die Europäische Union in Sachen Verteidigung deutlich stärker als bisher mit einer Stimme sprechen muss. Es gilt, die europäische Säule innerhalb der Nato auszubauen. Unsere europäischen Verteidigungsindustrien sind besser zu koordinieren. 80 Prozent der Rüstungsgüter in Europa werden immer noch auf rein nationaler Basis beschafft. Nur neun Prozent der Verteidigungsforschung wird derzeit in Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten durchgeführt. Das Ergebnis sind höhere Stückpreise und eine geringe Übereinstimmung unserer nationalen Fähigkeiten. In Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen müssen wir unsere verteidigungspolitischen Ausgaben effizienter und gemeinschaftlicher ausgestalten. Genau dort hat die Kommission bereits in dieser Legislatur mit der European Defence Industrial Strategy angesetzt. Damit ist ein wichtiger Grundstein für einen besser funktionierenden Binnenmarkt für Verteidigungsgüter gelegt, der in der nächsten Wahlperiode durch einen fachlich zuständigen Kommissar für Verteidigung koordiniert werden sollte.
Sollte Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, könnte dies die Beziehungen zwischen der EU und den USA belasten. Sind die EU und die Nato darauf vorbereitet?
Was Donald Trump im Weißen Haus bedeutet, haben wir vier Jahre lang beobachten können. In Zeiten globaler Konflikte und Krisen ist ein effektives und vertrauensvolles transatlantisches Bündnis unerlässlich. Drei Punkte sind von entscheidender Bedeutung. Unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sollten wir institutionalisieren und jenseits der politischen Ebene ausbauen. Damit wären sie ein Stück unabhängiger vom politischen Tagesgeschäft in Washington. Die Entscheidungsprozesse in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sollten optimiert werden, indem sinnvolle Fortschritte bei der Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht werden. Alle europäischen Nato-Mitglieder sollten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts tatsächlich für ihre Verteidigung ausgeben. Es ist Zeit, dass alle europäischen Staaten dieser gemeinsam eingegangenen Verpflichtung gerecht werden. Transatlantisch bleiben und zugleich europäischer werden – das ist daher der richtige Weg.
Gerade die deutsche Wirtschaft schwächelt aktuell. Wie können Deutschland und die EU wirtschaftlich gegen China und die USA bestehen?
Die USA sind unsere engsten Partner im globalen Wettbewerb. China hingegen ist das einzige Land, das die Absicht hat und über die wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Mittel verfügt, die globale Ordnung zu verändern. Das stellt unsere Beziehungen zur Volksrepublik auf eine vollkommen andere Grundlage. Eine vollständige Abkopplung von China ist weder in unserem Interesse noch realistisch. Dafür ist China zu groß, zu mächtig und zu sehr mit unseren Volkswirtschaften verflochten. Stattdessen müssen wir weiter daran arbeiten, bestehende Abhängigkeiten von China zu reduzieren, indem wir Wertschöpfungsketten zurück nach Europa holen und unsere Handelsbeziehungen mit anderen Drittstaaten im indopazifischen Raum ausbauen.
Immer wieder wird auch über die Kapitalmarkt-Union gesprochen. Müssen die EU-Staaten in Finanz- und Steuerfragen enger zusammenarbeiten?
Europa und Deutschland müssen zu einem starken Finanzplatz werden, der internationale Standards setzt und europäischen Unternehmen das benötigte Kapital zur Verfügung stellt. Dafür gilt es, die Kapitalmarktunion zu vertiefen und den Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen zu stärken. Bankenrettungen aus Steuermitteln und eine Vergemeinschaftung der Haftungsübernahme im Rahmen der europäischen Einlagensicherung sind allerdings der falsche Weg.
Die EU hat gerade einen gewissen Bürokratie-Abbau für Landwirte angeschoben. Wie können die Interessen von Umweltschutz, Verbrauchern und Landwirten unter einen Hut gebracht werden?
Die Interessen von Landwirten, Verbrauchern und Umweltschützern lassen sich durch eine ideologiefreie Politik mit Augenmaß gut vereinen. Unsere Landwirte erzeugen hochwertige Lebensmittel und leisten einen unschätzbaren Beitrag zur Ernährungssicherung sowie zum Umwelt-, Klima-, Arten- und Ressourcenschutz. Dafür verdienen sie Wertschätzung und Anerkennung. Die Europäische Kommission ist gut beraten, in der nächsten Legislaturperiode die Expertise unsere Landwirte enger in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen. Es braucht Anreize und Unterstützung statt Verbote und bürokratisches Klein-Klein.
Erstmals dürfen in Deutschland Jugendliche ab 16 Jahren das Europaparlament mitwählen. Wie wollen Sie diese jungen Wähler erreichen?
Es ist mir besonders wichtig, mit den Jung- und Erstwählern in Niedersachsen in den direkten Austausch zu kommen. So bin ich jede Woche mehrmals an Schulen im ganzen Land unterwegs, zuletzt auch in Syke und Achim. Dort habe ich die Möglichkeit zu erfahren, welche Themen sie bewegen und welche Erwartungen sie an die Europäische Union in den kommenden fünf Jahren haben. Junge Menschen müssen ernstgenommen werden. Neue Medien spielen in der Kommunikation eine Rolle, sie dürfen und können aber das direkte Gespräch nicht ersetzen.
Bei den Jugendlichen scheinen derzeit die Rechtspopulisten Anklang zu finden. Allgemein droht ein Rechtsruck im Europaparlament. Wie wollen Sie das verhindern?
Die Verantwortung für ein freies, demokratisches und rechtsstaatliches Europa liegt in den Händen von jedem und jeder einzelnen. In welche Richtung sich unsere Europäische Union in den nächsten fünf Jahren entwickeln soll, wird am 9. Juni an den Wahlurnen entschieden. Radikale, Demagogen und Nationalisten wollen nicht, dass das europäische Projekt auch in Zukunft erfolgreich ist. Nationalistischer Größenwahn hat im letzten Jahrhundert einen unvorstellbaren Schaden in Europa angerichtet. Als Deutsche haben wir eine besondere Verantwortung, dass es dazu nie wieder kommt.
Großes Potenzial greifen die Rechtspopulisten in Fragen der Migration ab. Wie kann Migration wieder positiver besetzt werden?
Europa ist und bleibt auf legale Zuwanderung von Fachkräften angewiesen. Diese Menschen schnell und möglichst unbürokratisch in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren, ist wichtig. Wir stehen fest zu unserer humanitären Verpflichtung, verfolgten Menschen zu helfen. Es ist die irreguläre Migration, die die gesamte EU und insbesondere Deutschland vor Probleme stellt. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, müssen wir unsere Außengrenzen besser schützen. Mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Asyl- und Migrationspakt haben wir einen wichtigen Schritt gemacht, um Migration humanitär besser zu ordnen, zu steuern und zu begrenzen. Der Pakt muss nun schnellstmöglich umgesetzt werden.
Aktuell sind die Wahlsysteme in allen Mitgliedstaaten für die Europawahl unterschiedlich. Bedarf es einer Angleichung und europäischer Parteien, damit es eine richtige Europawahl wird?
Am 9. Juni findet eine historische Wahl statt. „In Vielfalt geeint“ ist das Motto der Europäischen Union, weil es die unterschiedlichen Realitäten innerhalb der Mitgliedstaaten spiegelt. Dort sind über Jahrzehnte individuelle Wahlpraktiken historisch gewachsen. Aktuell gäbe es unter den nationalen Regierungen wohl keine Mehrheit, diese zugunsten eines einheitlichen Wahlsystems zu ändern. Die europäische Demokratie ist schrittweise weiterzuentwickeln. Dazu gehören auch die europäischen Parteienfamilien, wie beispielsweise die Europäische Volkspartei.
Eine der größten Herausforderungen in den kommenden Jahren werden der Klima-, Umwelt- und Artenschutz sein. Wie kann Europa die Klimaschutzziele erreichen?
Mit dem European Green Deal soll die Europäische Union bis 2050 klimaneutral werden. Dabei ist es wichtig, dass wir Wirtschaft, Energie und Klimaschutz nicht als Gegensätze, sondern als Einheit verstehen. Ohne eine wettbewerbsfähige Wirtschaft kann es keinen nachhaltigen Klimaschutz geben, ohne Klimaschutzmaßnahmen keine nachhaltige Modernisierung unserer Volkswirtschaft.
Wie haben Niedersachsen und speziell der Landkreis Diepholz in den vergangenen fünf Jahren von der EU profitiert und wie sieht es für die kommenden fünf Jahre aus?
Der Landkreis Diepholz hat in dieser Wahlperiode unter anderem vom Europäischen Sozialfonds und vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung profitiert – einige Beispiele umfassen die Errichtung eines Forschungszentrums für Mechatronik, die Schaffung barrierefreier Angebote im Naturpark Dümmer, die Finanzierung einer Koordinierungsstelle Frauen und Wirtschaft oder eines Eventprogramms für die Diepholzer Innenstadt. Darüber hinaus wurde im Rahmen des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums auch die Offenlandherstellung sowie die Wiedervernässung von Moorgebieten in der Diepholzer Moorniederung mit rund 500.000 Euro unterstützt. In Brüssel und Straßburg werde ich mich dafür einsetzen, dass Niedersachsen und Bremen auch im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen von 2028 bis 2034 umfassend mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung und dem Europäischen Sozialfonds berücksichtigt werden.
Das Interview führte Eike Wienbarg.