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Gestiegener Eigenanteil "Das übersteigt jede Rente": Wie ein Syker mit den Pflegekosten kämpft

Die Pflegekosten sind auf einem Allzeithoch. Rentner und ihre Angehörigen geraten in finanzielle Schwierigkeiten. Ein Fallbeispiel aus Syke.
17.07.2024, 17:45 Uhr
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Von Niklas Golitschek

An die jährlichen Preissteigerungen für die Pflege seiner Mutter hat sich Martin Schröder (Name geändert) schon gewöhnt. Seit mehreren Jahren wohnt sie im Seniorenheim Am Steinkamp in Syke; ein beschauliches 18-Quadratmeter-Zimmer mit Bad. Die Beträge, die ihre Rente und Witwenrente übersteigen, trägt der Rentner selbst. Beim Amt Sozialleistungen für die eigene Mutter zu beantragen, bringe er nicht über das Herz. „Auf keinen Fall“, sagt Schröder: „Das würde meine Mutter überhaupt nicht verstehen.“

Doch als Schröder Ende März das Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in den Händen hielt, musste er schlucken. Nach der jüngsten Erhöhung im März 2023 für Bewohner mit Pflegegrad 3 auf rund 3480 Euro gab der Heimtreiber bekannt, dass sich die voraussichtlichen monatlichen Gesamtkosten ab Mai dieses Jahres auf fast 4570 Euro belaufen – eine Preissteigerung von mehr als 30 Prozent. Zum Vergleich: Anfang 2022 lag der Betrag noch bei 3200 Euro. „Wir sind an einem Punkt, an dem die Dinge finanzieller Art aus dem Ruder laufen“, beschreibt Schröder seinen Eindruck.

Selbstverständlich müssen weder Schröders Mutter noch er selbst diesen Beitrag allein stemmen. Doch hier wird es kompliziert und offenbart grundlegende Probleme der Finanzierung des Pflegesystems in Deutschland. Der Sohn betont daher auch, dass es ihm nicht darum gehe, das DRK anzugreifen. „Das soll die Augen öffnen“, so seine Motivation, dem WESER-KURIER Einblicke in die Pflegeakten seiner Mutter zu gewähren und über das Tabuthema Geld zu reden: „Da macht sich eigentlich keiner einen Kopf drum.“

Kostensteigerung von mehr als 30 Prozent

Der Anteil, den die Pflegekasse zahlt, liegt seit 2022 unverändert bei rund 1260 Euro. Die Differenz müssen die Heimbewohner selbst aufbringen – von ihrer Rente, Sozialleistungen wie der Hilfe zur Pflege oder durch Angehörige. Weil Schröders Mutter bereits seit mehreren Jahren Am Steinkamp wohnt, gewährt die Pflegekasse einen Zuschuss von rund 870 Euro. Ohne diesen läge der Eigenanteil bei mehr als 3300 Euro, so bei 2440 Euro – immer noch eine ganze Menge im Vergleich zu den bisher 1350 Euro; bisher seien die Kostensteigerungen stets moderat gewesen. „Mit der Erhöhung sind wir gezwungen, zum Sozialamt zu gehen“, sagt Schröder beim ersten Gespräch. In Niedersachsen lag die durchschnittliche Rente für Frauen 2022 bei nicht einmal 800 Euro im Monat.

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Ganz so schlimm ist es nun doch nicht genommen. Nach den Verhandlungen des DRK mit den Kostenträgern erhielt Schröder den finalen Bescheid: Die Pflegekasse schießt zu seiner positiven Verwunderung mehr Geld zu, die Berechnung für die Gesamtkosten fällt ebenfalls niedriger aus. Der Eigenanteil sinkt damit zwar immerhin auf 1700 Euro. Doch die prozentuale Steigerung fällt mit fast 26 Prozent immer noch massiv aus. Ohne den Zuschuss läge die Selbstbeteiligung noch immer bei etwa 3000 Euro. „Das übersteigt jede Rente“, kommentiert Schröder: „Das kann keiner mehr bezahlen.“

Was läuft da also schief in dem Syker Pflegeheim? Anruf bei Ulrike Hirth-Schiller, Kreisgeschäftsführerin und Vorstandsvorsitzende beim DRK Kreisverband Diepholz. „Die Erhöhung ist unausweichlich“, stellt Hirth-Schiller klar und schiebt angesichts der hohen Eigenanteile hinterher: „Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung.“

Pflegekassen sind unterfinanziert

Die Kosten zu senken, sei den Betreibern kaum möglich. Hirth-Schiller rechnet vor: Die Erhöhung der Gehälter im Tarifvertrag schlage mit sechs Prozent zu Buche. „Das ist ein relativ großer Sprung“, sagt die DRK-Kreisgeschäftsführerin. Sachkosten wie Energie, Hygiene, Lebensmittel seien im Durchschnitt um 13 Prozent gestiegen. Die Gesamtkosten für die Bewohner stiegen damit im Durchschnitt um 19 Prozent, am Standort Am Steinkamp wegen der Reduzierung der Platzzahl um rund 40 Prozent.

Und diese Kostensteigerungen hat die Gesellschaft entschieden? Indirekt ja. „Der Pflegekassenanteil ist gedeckelt. Die Steigerung geht ausschließlich zulasten der Bewohner“, bedauert Hirth-Schiller. Für Laien sei das Prozedere kaum zu verstehen und führe immer wieder zu Frust. Das sei jedoch die Struktur des Pflegesystems, die Hilfe zur Pflege sei weniger Sozialhilfe als die dafür vorgesehene Finanzierung aus Steuermitteln. „So viel Rente haben die wenigsten“, weiß sie. Immerhin lasse sich der Antrag relativ einfach einreichen.

Doch damit lasse sich das Grundproblem nicht lösen: die Unterfinanzierung der Pflegekasse. „Gute Pflege gibt es nicht für lau. Sie muss finanziert werden“, sagt Hirth-Schiller – und darüber entscheide über die Politik letztlich die Gesellschaft. Das DRK plädiert daher für einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch. In diesem Modell müssten die Pflegebetroffenen einen festgelegten Eigenanteil zahlen und die variablen Kosten würden von den Pflegekassen getragen. Nur wären die Versicherten bereit, 0,5 Prozentpunkte mehr für ihre Pflegeversicherung zu bezahlen? Nach Berechnungen des DRK kämen in diesem Modell Mehrkosten in Höhe von rund sechs Milliarden Euro zusammen. Doch so werde das Altern nicht zu einem persönlichen Risiko. „Ich glaube, das sind kleine Stellschrauben für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Hirth-Schiller.

Anderes Finanzierungssystem erforderlich

Die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA) sieht den Sockel-Spitze-Tausch als eine Möglichkeit, das Problem zu lösen. „Wir brauchen insgesamt ein völlig anderes Finanzierungssystem“, sagt Reinhard Leopold, der Regionalbeauftragte für Bremen. Doch die Politik verschließe seit Jahren die Augen vor der Problematik und setze keine Reform durch – aus Unvermögen oder Unwillen. „Die Politik muss endlich dafür sorgen, dass das, was gut gemeint ist, auch gut gemacht wird“, fordert Leopold.

Doch seit den Merkel-Regierungen mit rigiden Sparkursen seien in vielen Bereichen wie Polizei, Justiz oder eben der Pflege mitsamt der Heimaufsichten Notlagen geschaffen worden. „Wir brauchen eine solide Grundfinanzierung“, sagt Leopold. Der Staat müsse einen Rahmen schaffen, in dem jeder die Leistungen erhält, die ihm zustehen. Über die Steuer müsse wiederum jeder dazu einen Beitrag leisten. „Früher oder später holt uns die Problematik ein“, mahnt der BIVA-Regionalbeauftragte.

Warten auf Reformen

Dem DRK in Landkreis Diepholz stellt der Verband dabei ein vorbildliches Vorgehen aus. Ulrike Kempchen, Leiterin der BIVA-Rechtsabteilung sagt, dass sie in den Jahren ihrer Tätigkeit „noch nie ein so ausführliches und transparentes Ankündigungsschreiben gesehen“ habe. Der Verband beobachte seit Inkrafttreten des Tariftreuegesetzes massive Kostensteigerungen angesichts der Personalkosten; hinzu kommt ein neues Personalbemessungssystem. Das bestätigen auch weitere Pflegekräfte, mit denen der WESER-KURIER gesprochen hat. In Bremer Pflegeeinrichtungen steigen die Eigenanteile teilweise um mehr als 1000 Euro im Monat. Dabei profitierten Pflegebetroffene eigentlich von den verbesserten Arbeitsbedingungen, würden aber übermäßig an der Finanzierung dafür beteiligt. „Solange die Pflegeversicherung weiterhin lediglich als Teilleistungssystem konzipiert ist, mit festen gesetzlichen Zuschüssen und einem wachsenden finanziellen Restrisiko der Betroffenen, werden weitere Kostensteigerungen auch nicht verhindert werden können“, bilanziert Kempchen.

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Den Frust darüber kann ihr Kollege durchaus nachvollziehen. „Für die Betroffenen ist das überhaupt nicht nachvollziehbar. Substanziell ändert sich nichts. Für Außenstehende ist das weder verständlich noch akzeptabel“, sagt er. Doch solange die Politik keine Reformen anschiebt, verharren Pflegebetroffene, ihre Angehörige und die Anbieter in diesem System – für Schröders Mutter und viele andere steht für das kommende Jahr bereits die nächste Gebührenerhöhung an. Bereits jetzt nehmen im Landkreis Diepholz 950 Menschen die Hilfe zur Pflege in Anspruch – bei mehr als 2650 Pflegeplätzen entspricht das einer Quote von 36 Prozent, wie der Landkreis auf Anfrage mitteilt. Da nicht alle Plätze belegt sind – unter anderem wegen des Fachkräftemangels – dürfte die tatsächliche Quote noch höher ausfallen, merkt Sprecherin Mareike Rein an.

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