Vielleicht müssen sie bei der Roess Nature Group den Eingangsbereich in der Firmenzentrale in Twistringen demnächst umgestalten. Womöglich müssen sie bald auch noch ein Netz dort aufhängen, wo jetzt schon andere Ausstellungsstücke stehen, die Meilensteine in der Firmengeschichte markieren. Zum Beispiel die antike Strohhülsenmaschine, bestimmt 100 Jahre alt. Mit so einem Gerät hat damals alles angefangen. Oder die üppigen Pflanzen am Empfang, die aussehen, als würden sie aus der Wand wachsen. Auch mit Begrünungen hat sich das Unternehmen vor einigen Jahren einen Namen gemacht.
Ein großes Projekt ist aktuell der sogenannte Aqua Rock Bag, eine Art Netzsack aus besonders reißfestem Material, der mit Steinen befüllt wird und Uferbereiche an Flüssen, Windkrafträder am Meeresboden oder Brückenpfeiler im Flussbett schützen und stabilisieren kann. „Solutions from Germany“, Lösungen aus Deutschland, verspricht das Unternehmen auf seiner Homepage.

Die Aqua Rock Bags helfen dabei, Flussverläufe wiederherzustellen, so wie hier in den USA.
Seit inzwischen 111 Jahren bestimmt die Suche nach Innovationen die Geschichte der Firma Roess. Ein Blick zurück ins Jahr 1913. „Geschäftseröffnung. Den geehrten Bewohnern von Twistringen und Umgebung zur Kenntnis, dass ich hierselbst, Westerstraße No.6, eine Schlosserei und Reparatur-Werkstatt mit Motorbetrieb eröffnet habe.“ So steht es in einer Anzeige, aufgegeben von Arnold Heinrich Meyer, seines Zeichens Maschinenbaumeister. Arnold Heinrich Meyer ist der Großvater von Thomas und Hans-Günter Roess, die heute in dritter Generation gemeinsam mit Steffen und Felix, der vierten Generation, das Unternehmen führen.
Twistringen im Landkreis Diepholz. Knapp 13.000 Menschen wohnen hier auf ungefähr halber Strecke zwischen Bremen und Vechta. Der frühere Sportmoderator Reinhold Beckmann ist in Twistringen groß geworden, die Publizistin Brigitte Seebacher, später Ehefrau von Willy Brandt, ist hier geboren, auch May Spils, Regisseurin des Spielfilms „Zur Sache, Schätzchen“, kommt hierher. Seit ein paar Jahren trägt auch die Roess-Gruppe den Namen der Stadt in die Welt hinaus.
Die Deutsche-Bank-Zentrale bewässert ihre Grünflächen mit Systemen aus dem Hause Roess. In der Erde an der Scheich-Zayid-Moschee in Abu Dhabi sind Bewässerungsmatten und Tropfrohre des Unternehmens verbuddelt. Im tiefsten russischen Osten sorgen Kokosmatten dafür, dass dort, wo Pipelines Erdgas und Erdöl zum eisfreien Hafen nach Korsakow pumpen, der Permafrostboden nicht erodiert. Die Aqua Rock Bags, tonnenweise mit Steinen beschwert, liegen in Manchester oder Sacramento/Kalifornien, am River Derwent oder am River Avon in England.

Am Standort im Twistringer Gewerbegebiet werden zum Beispiel Kokosmatten an großen Maschinen verarbeitet.
Zur Roess Nature Group gehören sechs Unternehmen an vier Standorten, drei davon in Twistringen, einer in Sri Lanka. 110 Mitarbeiter sind am Stammsitz beschäftigt, 120 in Madampe. 30 Millionen Euro Umsatz macht die Gruppe. Wer konnte das 1913 erahnen? Wobei: Geschäftstüchtig waren sie hier im Landkreis Diepholz schon immer.
2000 Familien, sagt Thomas Roess, hätten sich früher in Twistringen im Nebenerwerb mit der Strohverarbeitung Geld dazu verdient. Viel Landwirtschaft gibt es hier draußen, und früh flochten die Menschen aus den Strohhalmen Hüte zum Schutz vor der Sonne bei der Arbeit auf dem Feld und Strohhülsen, sogenannte Malotten, für Flaschen, um sie beim Transport vor Glasbruch zu schützen.
„Geiht use Stroh in alle Welt, is um Twustern goot bestellt“ lautet auf Platt ein Spruch aus jener Zeit. Geht unser Stroh in alle Welt, ist es um Twistringen gut bestellt. Heute ist Kokos das Material der Wahl, und dafür hat Roess vor inzwischen 30 Jahren eine Niederlassung in Sri Lanka gegründet. Im sogenannten Kokosnuss-Dreieck zwischen der wichtigsten Stadt des Landes, Colombo, Puttalam im Norden und Kurunegala im Osten hat die Roess-Tochter Lanka Coco Products in Madampe ihren Sitz.
Das Firmengelände ist eingerahmt von Kokospalmen, die Fasern in höchster Qualität liefern, die entweder zu Ballen gepresst und nach Twistringen verschifft oder bei Lanka Coco vor Ort an riesigen Webstühlen und Maschinen zu Schnüren, Garnen, Netzen oder Matten verarbeitet werden.
Die Geschäftsführung aus Deutschland war erst kürzlich zum kleinen Firmenjubiläum wieder vor Ort. „Das ist jedes Mal ein Erlebnis“, sagt Thomas Roess, „man lernt immer wieder etwas Neues dazu.“ Diesmal zum Beispiel, wie genau die Zeremonie zur Inbetriebnahme einer Ballenpresse abzulaufen hat. Nämlich so: Ein buddhistischer Mönch und ein katholischer Priester segnen die Maschine. Parallel wird eine Kanne mit Milch aufgekocht, und genau in dem Moment, in dem die Milch kocht, muss der Chef, in dem Fall Thomas Roess, Richtung Norden schauen. Erst dann durfte er den Startknopf drücken.
Die Roess Nature Group liefert Produkte für einen Markt, der in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Erosionsschutz und Begrünungen, Bewässerungssysteme und Uferschutz werden in Zeiten des Klimawandels eher noch wichtiger werden. Entscheidend deshalb, dass sich Unternehmen darauf vorbereiten. Wenn aber Fachkräfte fehlen, ist das selbst in einem Wachstumsmarkt leichter gesagt als getan.
Aber auch dafür hat sich die Firma etwas einfallen lassen. Die Roess Nature Group gehört zu den Gründern von taff, einem Zusammenschluss von mehreren Firmen im Landkreis Diepholz, die die Qualifizierung ihres Nachwuchses selbst in die Hand nehmen. Neben der Berufsschule und der Zeit im Betrieb fügt taff dem dualen System eine dritte Säule hinzu. In der Ausbildungswerkstatt in Bassum erhalten angehende Zerspanungsmechaniker, Werkzeugmechaniker oder Konstruktionsmechaniker eine individuelle Praxisanleitung, damit auch in den nächsten Jahren Produkte aus dem Hause Roess verlässlich ihren Weg in die weite Welt finden.