Grasberg. Für Martina Hartmann gibt es derzeit nur wenige Momente, in denen sie das Telefon aus der Hand legen kann. Die Grasbergerin engagiert sich für Geflüchtete aus der Ukraine und das bedeutet viel Organisation. Eine Mutter und ihre erwachsene Tochter sowie eine weitere Frau wohnen bei ihr im Haus. Als klar wurde, dass Unterkünfte für die Geflüchteten benötigt würden, habe sie die Einliegerwohnung an die Gemeinde gemeldet. "Mir war klar, dass ich den Menschen bei ihrem Start hier vor Ort auch in ihrem Alltag helfe, wenn ich sie bei mir aufnehme. Nur Wohnraum geben geht nicht", ist die 64-Jährige überzeugt.
Wohnraum kann Kerstin Flato nicht zur Verfügung stellen, wie sie selbst sagt, aber dafür sei sie als Alltagshelferin aktiv. "Ich bin mit meiner Tochter im März zu dem Infoabend des Familienbündnisses in der Kirche gegangen. Wir wollten etwas tun, weil wir uns durch die Bilder des Kriegs so machtlos fühlten", berichtet die 41-Jährige. Sie kümmert sich bereits um die zweite Familie, die erste sei nach kurzer Zeit zu Bekannten nach Nordrhein-Westfalen gezogen. "Wir sind uns sehr ans Herz gewachsen", sagt die Grasbergerin. Sie habe Vorsorgetermine für das Baby der Familie organisiert, und der sechsjährige Sohn der ukrainischen Familie habe mit ihren Kindern auf dem Spielplatz getobt.
Hilfe für Großfamilie
Mittlerweile kümmert sich Kerstin Flato um eine Mutter mit vier Kindern, deren älteste Tochter wiederum vier Kinder hat. Deren zwölf Jahre altes Kind sei körperlich und geistig behindert, die dreieinhalbjährige Tochter habe eine Kiefer-Gaumenspalte. "Nur ein Familienangehöriger kann lesen, und das macht es schwer", sagt Flato. Allein die Familie davon zu überzeugen, die Kinder einem Arzt vorzustellen, sei alles andere als einfach gewesen. "Für mich ist das nicht leicht zu ertragen, gerade als Mutter. Es sind Sinti und Roma, und ich stelle fest, dass sie eine andere Mentalität haben und benachteiligte Kinder nicht so fördern, wie wir das kennen." Zudem erlebe sie, dass die Familie wenig Interesse an der Außenwelt zeige. "Sie leben in ihrer Großfamilie, deren anderer Teil in Lilienthal untergekommen ist", sagt Kerstin Flato.
Mindestens drei Stunden am Tag sind die beiden Alltagshelferinnen mit ihrem Ehrenamt beschäftigt. "Es geht ja nicht nur um die Zeit, die man direkt mit den Menschen verbringt, sondern auch um die Organisation der Abläufe", erklärt Martina Hartmann. So habe sie viel Zeit investiert herauszufinden, wo die Geflüchteten Deutschkurse absolvieren können, für die sie am Ende Zertifikate bekommen und wer die Kosten dafür übernimmt. "Man telefoniert von Pontius zu Pilatus und quer durch alle Behörden, das ist schon irre." Mit einem Dolmetscher seien sie bei der Bank gewesen, um die Kontoauszüge und die Bedienung der SB-Terminals zu erklären. Ansonsten sei die Übersetzungsapp per Spracheingabe auf den Smartphones ein wichtiges Hilfsmittel, auch wenn die Frauen mittlerweile schon ein bisschen Deutsch verstünden.
Zeit und Geduld
"Wenn wir den sprechenden Übersetzer nicht hätten, wären wir aufgeschmissen", sagt Martina Hartmann. Sie habe ihren Gästen Kinderbücher mit vielen Bildern gegeben, um die Sprache, aber auch die lateinische Schrift zu lernen, denn viele würden nur das kyrillische Schriftbild kennen. "Man kriegt es hin, aber manchmal ist es schon sehr schwierig", gibt Kerstin Flato zu. So bekomme das kleine Mädchen ihrer ukrainischen Familie wegen der Kiefer-Gaumenspalte nur Flüssignahrung. "Ich bin mit der Mutter in den Supermarkt und habe ihr mit der App erklärt, was sie kaufen muss." Bei Arztterminen werde den Alltagshelfern und den Familien ein Dolmetscher zur Seite gestellt, den Diakonin Kerstin Tönjes organisiere. Auch die Anmeldung bei den Corona-Testzentren habe einige Zeit in Anspruch genommen. "Die ukrainischen Namen einzugeben dauert lange", sagt Hartmann. Überhaupt sei Zeit das entscheidende Kriterium, das man benötige, wenn man sich als Alltagshelfer betätigen wolle. Und Geduld.
Die Gäste von Martina Hartmann hingegen seien sehr plietsch. "Sie fahren mittlerweile alleine mit dem Bus, und ich habe es geschafft, dass sie fünf Tage in der Woche beschäftigt sind", berichtet Martina Hartmann. So sei eine der bei ihr wohnenden Frauen Schneiderin, und Hartmann habe ihr eine Nähmaschine besorgt. Zudem hat die Grasbergerin, die selbst bei der DRK-Kleiderkammer in Worphausen tätig ist, die Frauen dorthin mitgenommen. Jetzt arbeiten sie dort ehrenamtlich, erzählt Hartmann. "Das ist ein großer Vorteil, weil sie den anderen ukrainischen Frauen, die zu uns kommen, helfen können, sich bei uns zurechtzufinden und ihnen erklären können, wie unsere Waren sortiert sind."
Dolmetschen in der Kleiderkammer
Um ein bisschen dolmetschen zu können, haben die Frauen die deutschen Wörter für die Kleidungsstücke ins Ukrainische übersetzt und in Lautschrift aufgeschrieben. "So wissen sie, wie man die Wörter im Deutschen ausspricht." Nicht nur die Kleiderkammer und die Kundinnen aus der Ukraine profitierten davon, auch die "neuen" Ehrenamtlichen täten durch ihr Engagement etwas für sich. "Sie kommen raus und können gleichzeitig etwas zurückgeben. Dieses Beispiel zeigt, wie schnell Integration gelingen kann, und für mich ist es dadurch ein bisschen leichter, die Bilder vom Krieg zu ertragen", sagt Kerstin Flato. Für sie selber habe das Engagement als Alltagshelferin auch eine Vorbildfunktion, erklärt die Mutter von fünf Töchtern. "Wir leben den Kindern damit vor, dass es wichtig ist, sich zu engagieren und dass es nicht selbstverständlich ist, so zu leben, wie wir es tun können. Und man tut es, um gegen die eigene Hilflosigkeit anzukommen."