Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

West-Autos in der DDR Am Anfang stand die Sammelleidenschaft

Der Landkreis-Politiker Björn Herrmann hat eine besondere automobile Leidenschaft: Er begeistert sich für Wagen aus dem Westen, die in die DDR exportiert wurden. Darüber hat er ein Buch geschrieben.
10.10.2019, 08:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Ulf Buschmann

Tuck, tuck, tuck! Knatter, knatter! Wer einmal in Ost-Berlin oder der DDR war, vergisst das typische Geräusch eines Zweitakt-Motors nicht mehr. Auch der Gestank bleibt dem im Westen aufgewachsenen Zeitgenossen in der Nase beziehungsweise in Erinnerung. Vor allem der Trabant und der Wartburg sorgten für Mobilität in der DDR. Wenn dann doch mal ein Auto aus dem kapitalistischen Ausland des Weges kam, war das Erstaunen groß.

Westautos, ja, die gab es auch im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“, wie sich die DDR selbst nannte. Im Großen und Ganzen bekannt ist die Lieferung von rund 10 000 Golf von Volkswagen in die DDR im Jahr 1978. Auch dass die Staats- und Parteiführung um Erich Honecker Volvo und Citroën CX fuhr, ist unter anderem durch Fernsehbilder von hüben und drüben belegt. Doch damit ist nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt.

Westautos in der DDR

Wie tiefgehend dieses Thema ist, hat Björn Herrmann in einem knapp 270 Seiten dicken Buch mit dem Titel „Westautos in der DDR“ aufgearbeitet. Seine Recherchen im Bundesarchiv, in der Stasi-Unterlagen-Behörde und bei Zeitzeugen legen einen bislang so gut wie unbekannten Teil der deutsch-deutschen Auto- und Wirtschaftsgeschichte offen. Eine zentrale Rolle spielte dabei DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski mit dem Unternehmensgeflecht „Kommerzielle Koordinierung“, kurz „KoKo“.

Bekannt ist Björn Herrmann in erster Linie durch sein kommunalpolitisches Engagement – er sitzt für die SPD im Osterholzer Kreistag und im Schwaneweder Gemeinderat. Weniger bekannt ist, dass der 46-jährige Kulturwissenschaftler seit 1991 ein Faible für Autos aus der DDR hat. Herrmann war nicht nur Mitglied eines Wartburg-Clubs, er fuhr auch einen – zum Beispiel regelmäßig vom heimischen Meyenburg zur Vorlesung an der Universität Bremen.

Lesen Sie auch

Wer sich derart für die Autos aus dem Osten interessiert, den verschlägt es irgendwann ins Museum für sächsische Fahrzeuge nach Chemnitz. Björn Herrmann fuhr 2013 dorthin. Er erinnert sich: „Dort sind ein Golf, ein Volvo und ein Citroën GSA ausgestellt.“ Die Besucher erfahren in dem Museum noch, dass die Autos importiert wurden, um den DDR-Markt zu erweitert. „Mehr Informationen gibt es nicht.“ Das, fand Björn Herrmann, geht gar nicht. Noch am gleichen Abend begann er, im Internet zu recherchieren: Gibt es noch Westautos, die einst in die DDR exportiert wurden? Es gab beziehungsweise gibt sie noch immer. Ein Jahr später, 2014, legte sich Björn Herrmann einen VW Passat, Baujahr 1987, zu. Es ist eines von rund 300 Fahrzeugen, die über den Genex-Geschenkdienst in die DDR kamen. Über Genex konnten die DDR-Bürger Waren bestellen, die es bei ihnen entweder gar nicht oder nur sehr schwer gab. Voraussetzung: Entweder die West-Verwandtschaft oder die DDR-Bürger bezahlten in harter Westwährung.

Der Beginn einer Sammlung

Mit seinem Sammlerstück stieß Björn Herrmann erstmals auf ein Stück dieser Wirtschaftsgeschichte, die er fünf Jahre später in seinem Buch beleuchten sollte. „Das Auto stammt aus Greifswald“, sagt Björn Herrmann. Die Besitzer hatten es bei der West-Verwandtschaft bestellt und selbst mit Vermögen aus dem Westen bezahlt. Der im Original erhaltene Abholschein der Genex weist aus, dass der Wagen im Mai 1987 beim VEB IFA-Vertrieb Berlin abzuholen war. Das Auto bekam das amtliche Kennzeichen ABE 7-84.

Der Passat reichte Herrmann nicht: Er legte sich für wenig Geld einen Fiat Uno, einen Peugeot 305 und einen VW Golf 2 zu. Auch hinter diesen Autos stecken aus heutiger Sicht faszinierende Geschichten. „Der Fiat gehörte der Wirtin der Kneipe am Friedrichstadtpalast“, erzählt Herrmann, „den hat sie mit den Trinkgeldern der Westkünstler bezahlt“. Allerdings bekam die Frau den Fiat nicht über die Genex, sondern über den Intershop.

Der Peugeot 305 war ein Auto für die sogenannte Funktionselite: Ärzte, Kombinatsdirektoren oder auch verdiente Künstler kamen damit von A nach B. „Solche Autos wurden von der Gruppe Karat gefahren“, klärt Björn Herrmann auf. Seinen Peugeot nutzte der Direktor eines Außenhandelsbetriebs. „Im Bundesarchiv gibt es dazu noch den Bettelbrief des Mannes. Das ist eine dicke Akte“, erzählt der Kulturwissenschaftler.

Und dann ist da noch Björn Herrmanns VW Golf. Die West-Tante sorgte einst dafür, dass ihn ihre Ost-Neffen in Sangerhausen im heutigen Sachsen-Anhalt bekamen. Danach besaß ihn ein Reichsbahner. „Der hat tunlichst vermieden, dass das Auto zu sehen war“, erzählt Björn Herrmann. Der Golf sei eigentlich nur zum Ziehen des Anhängers beim Heumachen benutzt worden – kein Wunder also, dass das Auto, Baujahr 1988, einen Kilometerstand von nur 50 000 auf dem Zähler hat.

Lesen Sie auch

Nach zwei Jahren Sammelleidenschaft reichte es Björn Herrmann nicht mehr, nur Autos zu sammeln. Er machte sich daran, die Geschichte hinter diesen Deals aufzuarbeiten. Damit drang er in eine Materie vor, über die zuvor so gut wie nichts bekannt war. Und Akten, das war alsbald klar, gibt es nur noch wenige. Denn bei Wirtschaftskontakten in den Westen ging nichts ohne die Koko. „Es war wie eine Krake“, meint Björn Herrmann. Und: „Die waren beteiligt, wenn es darum ging, Westautos in die DDR zu holen.“

Die Devise bei allen Geschäften sei gewesen, möglichst keine der ohnehin knappen Devisen einzusetzen. Die DDR setzte auf Kompensationsgeschäfte: Sie bezahlte die Westimporte mit Waren. Davon profitierten zum Beispiel VW und Citroën. „Fast alle VW der 1980er-Jahre hatten DDR-Scheinwerfer“, erzählt Björn Herrmann. Er weiß auch: „Ein Großteil der Karosserieteile kam aus dem Erzgebirge.“

Auch Citroën sorgte für Austausch: Die Franzosen bauten in Zwickau ein komplettes Werk für Gelenkwellen und nahmen Teile davon für die eigenen Autos ab. Mit dem Versuch, der DDR ein ganzes Werk anzudrehen und das Modell „Visa“ dort bauen zu lassen, scheiterte Citroën. Doch so ganz ohne Wirkung blieben die Umtriebe der Franzosen nicht: Um im Konkurrenzkampf nicht den Kürzeren zu ziehen, stiegen die Wolfsburger massiv ins Genex-Geschäft ein. Auf diesem Weg gelangten etwa 14 000 Golf 2 in den Arbeiter- und Bauernstaat. Das Modell wie es Björn Herrmann sein Eigen nennt, war der meist gefahrene VW in der DDR. 14 000 gelieferte Autos „waren für VW wenig, aber auf den DDR-Straßen war das wahrnehmbar“, zieht Björn Herrmann einen Vergleich.

Recherche im Archiv

Das alles herauszufinden, kostete ihn eine Menge Zeit und Geduld – so zum Beispiel im Bundesarchiv. „Ich habe zwei Wochen lang einige Kubikmeter Akten von links nach rechts bewegt“, blickt der Kulturwissenschaftlicher zurück. Das Problem: Die Akten der Koko waren geschreddert worden, bevor die Nachwende-Institutionen der DDR und später die bundesdeutschen Behörden darauf zugreifen konnten. Glücklicherweise, so Herrmann, seien die Handakten der DDR-Führung erhalten. Darunter fallen zum Beispiel die Beschlussvorlagen für das Politbüro beziehungsweise für Schalck-Golodkowski.

Björn Herrmann verbrachte indes nicht nur Zeit im Bundesarchiv, sondern arbeitete sich ebenso durch die Bestände des Archivs der Stasi-Unterlagenbehörde. „Das war wegen der Fahrzeuge für die Staatsführung interessant“, sagt Björn Herrmann. Die Mächtigen fuhren nämlich Volvo und Citroën. Sie zu beschaffen war Aufgabe des Ministeriums für Staatssicherheit. Spätestens an dieser Stelle wird die Doppelrolle der Koko klar: Sie sorgte für Deviseneinnahmen des Staates und sie war ein Teil der Staatssicherheit. Schalck-Golodkowski war entsprechend sogenannter Offizier im besonderen Einsatz (OibE), nämlich Major der Staatssicherheit mit den Bezügen eines Generals. Seine Zuarbeiter schrieben gleichermaßen Wirtschafts- und Geheimdienstvorlagen. Als dritte Quelle nutzte Björn Herrmann ehemalige Mitarbeiter der Fahrbereitschaft des Politbüros – unter anderem den Chef des Personenschutzkommandos. Björn Herrmann macht klar: „Die Fahrbereitschaft war eine Stasi-Einheit, die Hauptabteilung X.“ Dazu gehörte auch ganz gewöhnliches Personal wie ein Werkstattmeister. Er berichtet beispielsweise, dass er zu Serviceschulungen nach Paris und Göteborg geschickt wurde, um die Volvos und Citroëns der Staatsführung überhaupt reparieren zu können.

Lesen Sie auch

Auf den knapp 270 Seiten seines Buches hat Björn Herrmann noch mehr skurrile Ereignisse zusammengetragen – so etwa die Geschichte von Jörg Pattusch. Er hatte 1968 die Genehmigung bekommen, in Dresden einen „Spezialbetrieb für VW-Kfz-Fahrzeuge“ zu betreiben. Pattusch baute einen Käfer um und fuhr siegreich Rallyes im Ausland sowie in der DDR. Im Jahr 1979 wurde er DDR-Meister. Danach durften Westautos nicht mehr an den Start gehen, denn „es kann nicht sein, was nicht sein darf“, schreibt Björn Herrmann.

„West-Autos in der DDR“ ist im Verlag Oktan79 erschienen und kostet 34,90 Euro. Im Frühjahr 2020 ist überdies eine Sonderausstellung über West-Autos in der DDR geplant.

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Einwilligung und Werberichtlinie

Das kompakte Nachrichten-Update für den Landkreis Osterholz und umzu. Lesen Sie Montag bis Freitag jeden Abend die wichtigsten Nachrichten aus Ihrer Region.

Schließen

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)