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Lilienthal im Ausnahmezustand Hochwasser vor einem Jahr: Wie es den Menschen an der Wörpe heute geht

Das sogenannte Weihnachtshochwasser hat die Menschen der Region vor einem Jahr über Wochen beschäftigt. Beim Rundgang entlang der Wörpe in Lilienthal zeigt sich, wie es ihnen heute geht.
23.12.2024, 05:08 Uhr
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Hochwasser vor einem Jahr: Wie es den Menschen an der Wörpe heute geht
Von André Fesser

Wer in diesen Tagen an Wümme und Wörpe entlangfährt, dem kommen zwangsläufig die Erinnerungen an das Winterhochwasser. Vor einem Jahr hat es die Menschen in Lilienthal, Borgfeld, Timmersloh und umzu über Wochen in Atem gehalten. Ein Jahr später sehen nur Ortskundige, was sich verändert hat. Bäume sind gefallen, Uferbefestigungen verstärkt worden. An vielen Häusern wird noch gearbeitet, die Hochwasserschäden sind bei Weitem nicht beseitigt. Und hinter manchem Haus türmen sich noch die Sandsäcke – weiß man, ob man sie nicht bald wieder benötigt?

Die Bilder in den Köpfen sind allgegenwärtig. Renate Lindemann erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Sie lebt in einem der Häuser am Mühlendeich, nahe dem Brauereiweg, wo die Wörpe über Tage nur eine Handbreit unterhalb der Deichkante stand. Ja, sie habe Angst gehabt, sagt Lindemann. "Eine Nacht lang haben wir oben im Haus gestanden und aus dem Fenster geguckt." Um zu schauen, was draußen in der Dunkelheit passiert. Ob das Wasser kommt. Und sie ihr Haus verlassen müssen.

Auch in diesem Dezember stehen Lilienthalerinnen und Lilienthaler wieder an ihren Fenstern und auf den Deichen. Einige berichten, dass sie seit diesem Jahr ganz anders auf die Wiesen und die Wörpe blicken als früher und genau beobachten, wie hoch das Wasser steht. Wenn dann, wie am vergangenen Freitag, die Handys vibrieren und über die Warn-Apps eine Sturmflutwarnung für die Nordseeküste verkünden, kehrt die Sorge zurück, dass sich die Lage wieder verschärfen könnte. Jürgen Weinert, allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters, versuchte gegenüber unserer Redaktion noch am Abend zu beruhigen. Man stehe in engem Kontakt zum Wetterdienst und sei auf alle Szenarien vorbereitet – die Lage heute sei nicht vergleichbar mit der Situation vor einem Jahr.

Damals hatte sie sich über Wochen verschärft. Anhaltende Regenfälle hatten im Herbst die Wiesen gesättigt. Kurz vor Weihnachten kam dann noch ein Orkantief hinzu, das das Wasser von der Nordsee ins Binnenland drückte und im Nordwesten den Abfluss des bereits vorhandenen Wassers behinderte. Die Feuerwehren hatten schon zu diesem Zeitpunkt viel zu tun, wie unsere Redaktion am 22. Dezember 2023 berichtete.

Das Orkantief Zoltan hat die Einsatzkräfte im Landkreis Osterholz auf Trab gehalten. Zwar sprach ein Polizeivertreter am Freitag davon, dass die erste Sturmnacht "glimpflich" verlaufen sei und es nur wenige Einsätze gab. Dafür waren aber die Feuerwehren kräftig gefordert. Neben den Wassermassen waren es vor allem umgestürzte Bäume, die die Einsatzkräfte am Donnerstag und auch am Freitag beschäftigten.

Ein Auf und Ab des Wasserstandes ist man an der Wörpe gewohnt. Gerade im Winter steht der Pegel höher. Ein Anwohner der Falkenberger Landstraße, der von seinem Grundstück aus einen tollen Blick über den Fluss und die angrenzenden Wiesen im Verenmoor hat, hat stets eine Kranichfigur aus Metall im Auge, die am Ufer der Wörpe im Gras steckt: Manchmal steht der Vogel mit den Füßen im Nass, ein Zeichen dafür, dass der Fluss viel Wasser führt. Vor einem Jahr stand ihm das Wasser zunächst bis zum Hals. Dann war der Kranich weg.

Über die Weihnachtstage sollte sich das Geschehen dramatisch verändern. Das Wasser stieg immer weiter, drückte auf die Deiche und das, was Anwohner bis zu diesem Zeitpunkt für einen Deich hielten. Auf vielen Grundstücken rückte das Wasser Stück für Stück an die Häuser heran. Die Feuerwehren und weitere Hilfskräfte waren längst im Dauereinsatz.

Dem Mann von der Falkenberger Landstraße konnte das nicht schrecken. Sein Haus steht so hoch, dass das Wasser noch einen weiteren Meter hätte steigen müssen, bis es ihm ins Haus gelaufen wäre. "Vor mir wäre noch der Aldi-Markt abgesoffen", sagt er und zeigt auf den Discounter auf der anderen Straßenseite.

Ganz anders ging es an den Weihnachtstagen den Bewohnern der Reihenhäuser auf Ahnwers Wiese. Von ihren Terrassen aus sahen sie Wasser, so weit das Auge reichte. Die Wörpe stand jetzt ungewöhnlich hoch, und von der Wümme her drückte das Wasser über die Entwässerungsgräben auf die Wiesen. Ein tief liegendes Grundstück mitsamt Pavillon war bereits an Heiligabend vom Wasser eingenommen. Als es an Ahnwers Wiese dann plötzlich auch noch nach Gas roch, mussten erstmals in diesen Tagen Menschen im Ort ihre Häuser verlassen. Der hohe Grundwasserstand und die belasteten Kanäle ließen das Wasser in die Keller eindringen. Jetzt entstanden Schäden an Hab und Gut, wie sich eine Anwohnerin erinnert: "Einmal durchwischen hat nicht gereicht."

Im Ort überschlugen sich jetzt die Ereignisse. Ein Stück flussabwärts war bald darauf längst nicht mehr klar, ob es bei gefluteten Kellern bleiben würde, oder womöglich noch der ganze Ort absäuft.

"Die Lage ist kritisch, wir machen uns große Sorgen, weil der Deich aufgeweicht ist. Wir wissen nicht, ob wir ihn halten können“, sagte Jürgen Weinert von der Gemeindeverwaltung gegenüber Medienvertretern am Mittag des 2. Weihnachtstages. Sollte der Deich im Bereich Stadskanaal brechen, führe das zu einem „enormen Schaden“, so Weinert. Im schlimmsten Fall wäre auch der Lilienthaler Ortskern betroffen.

Rose Marschewski wohnt im Stadskanaal, ihre Familie lebt Am Mühlenbach, beides unmittelbar an der Wörpe. Die Straßen zählten zu den Hotspots des Hochwassergeschehens in Lilienthal. Marschewski steht im Garten gleich hinter der Verwallung, die die Häuser von der Wörpe trennt. "Die Sandkiste war weg", unter Wasser, erzählt sie und zeigt auf das kleine Hinterhausidyll, in dem an trockenen Tagen Kinder spielen. Vor einem Jahr waren in diesem schmucken Garten haufenweise Feuerwehrleute unterwegs. Bemüht, den Schutzwall zu sichern.

Auch Rose Marschewskis Familie – Kinder und Enkelkinder – habe ihr Haus verlassen müssen und sei zu Verwandten gezogen, erzählt sie. Sie selbst habe gar nicht mehr gewartet, bis die Feuerwehrleute vor ihrer Tür standen, und sei schon am 1. Feiertag zu ihren Kindern nach Stade gezogen. "Ich wollte selbst entscheiden, was mit mir passiert", sagt sie. Elf Tage sei sie weggeblieben, bis die Lage beherrschbar erschien und sie in ihre Wohnung zurückkehren durfte. Von der "Tatkraft, Umsicht und Mitmenschlichkeit" der Verantwortlichen auf Gemeindeseite und den Helferinnen und Helfern sei sie noch heute "begeistert".

Die Hochwasserlage hat sich in Lilienthal am Tag nach Weihnachten noch einmal verschärft. Zwar hielten die Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehren, des Technischen Hilfswerks, der DLRG, der Gemeinde Lilienthal und anderen Institutionen das Geschehen am Wörpe-Deich in Höhe der Straße Stadskanaal für beherrschbar. Dafür machte das Wasser an anderen Stellen große Schwierigkeiten. Im Zollpfad, einer kleinen Wohnstraße zwischen Wörpe und Schützenhaus, wurde den Anwohnern nahegelegt, ihre Häuser zu verlassen, da die Versorgung mit Strom und Gas gekappt werden musste. Die Gemeinde richtete eine Notunterkunft ein.

Rund um die Straße Am Holze liefen gleich nach Weihnachten die Gebäude voll. Die Straße Zollpfad stand nach kurzer Zeit komplett unter Wasser, in Gummihosen wateten Anwohner durch die Straße, um zu ihren Wohnungen zu gelangen. "Wir können diese Häuser nicht schützen", sagte Bürgermeister Kim Fürwentsches damals. Das eigene Zuhause verlassen zu müssen, schutzlos und hilflos zu sein, so ist zu hören, hat viele Anwohner lange beschäftigt. Auch Rose Marschewski berichtet, dass "die Kinder länger schlecht geträumt haben".

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Auch andere Anwohner, die man an der Wörpe trifft, beschäftigt das Hochwasser bis heute. Am Stadskanaal, wo über Wochen mit schwerem Gerät hantiert wurde, pflastern Arbeiter in diesen Tagen den Fußweg an einem Mehrparteienhaus neu. Valeri Klotz kommt gerade aus dem Haus. Auch er hatte seine Wohnung vor einem Jahr verlassen müssen. Er zeigt die Stellen, an denen immer noch gearbeitet wird. Auf den Weg und auf den Zaun des Nachbarn, der immer noch kaputt sei.

Ein solcher Nachbar ist auch Wolfgang Steinmann. Sein Garten diente monatelang als Schutzzone gegen das Hochwasser. Mit übergroßen Sandsäcken, sogenannten Bigbags, war quer über sein Grundstück ein zweiter Deich geschaffen worden. Zwar sei der Garten seit dem Herbst wieder komplett, die Gartensaison habe aber ohne seine grüne Oase auskommen müssen. "Der Zaun ist noch nicht wieder hergestellt", das komme aber noch, sagt Steinmann. Ein ums andere Mal sei der Hund ausgebüxt.

Die Sorge, dass sowas mal wieder passieren kann, können die Menschen an der Wörpe kaum verdrängen. Vereinzelt standen und stehen Häuser zum Verkauf. Die meisten aber wollen bleiben. An einem Zaun am Mühlendeich hat ein Anwohner die Sandsäcke einfach liegen lassen. Sie sollen helfen, das Wasser einer womöglich überschwappenden Wörpe fernzuhalten. Die Sandsäcke sind nicht der einzige Schutz, den sich der Besitzer verordnet hat, wie er beim Besuch vor Ort erzählt: Da er finanziell unabhängig sei, habe er für seine Familie und sich in Bremen eine Wohnung kaufen können. Nichts Großes, nichts Besonderes, aber ein Ort, an dem man im Notfall schnell unterkommen könne.

Auch Rose Marschewski hat sich gefragt, wie sie mit der Situation umgehen soll, wenn das Hochwasser ein weiteres Mal kommen sollte. Sie treibe weniger die Sorge um, was passieren könne, als die Frage, wie man sich darauf vorbereiten sollte. Vollkommen abgeschlossen habe sie ihre Überlegungen noch nicht. Einen Ersatzparkplatz beispielsweise wolle sie sich noch suchen – für den Fall, dass sie ihr Auto kurzfristig wegfahren müsse. Dafür sei sie an einem anderen Punkt vorbereitet: "Es gibt jetzt eine Wathose."

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