Osterholz-Scharmbeck. Frieder Lüße hat im Rathaus der Stadt seinen Traumjob gefunden. Seit dem 1. Januar ist der bisherige Leiter des Baubetriebshofs die „Idealbesetzung“, so Bauamtschef Frank Wiesner, für die neu geschaffene „Grün-Stelle“ im Fachbereich Stadtplanung und Bauen. Lüße ist Gärtnermeister – Bäume, Sträucher und Stauden im Wachstum zu unterstützen war seine Passion von Kindesbeinen an. Dass er nun von der Auftragsannahme im Bauhof auf die Bestellerseite im Rathaus gewechselt ist, dient dem Netzwerk, wie er findet. Er verdankt seinen neuen Job dem alarmierenden Populationsrückgang bei den meisten Insektenarten und der gewachsenen Einsicht, dass dagegen etwas unternommen werden muss. Im süddeutschen Freistaat haben gerade Hunderttausende Bürger das Volksbegehren „Artenvielfalt und Naturschutz in Bayern“ zum erfolgreichsten in der Geschichte des größten deutschen Bundeslandes gemacht.
Mit der Schaffung einer neuen personellen Ressource dokumentiert die Stadt, wie wichtig sie das Thema Insektenschutz nimmt. Dabei ist es nicht damit getan, ein paar Tütchen Wildblumensamen in städtischer Erde zu verbuddeln. Lüßes Job ist, so Wiesner, die „strategische Ausrichtung“. Wo bietet sich öffentliches Grün für eine ökologisch sinnvolle Nutzung an, wo nicht? Diese und andere Fragen soll der Neuzugang im Fachbereich klären, stets in Zusammenarbeit mit Naturschützern, Umweltverbänden und anderen Einrichtungen. Stadt und Biologische Station (Bios) Osterholz (Lüße: „Die haben die Expertise“) haben sich bereits während eines ersten „Schnupper-Treffens“ auf einen Letter of Intent verständigt – im Sinne eines engen Austausches und mit der erklärten Absicht, bei Maßnahmen zum Schutz der Insektenfauna an einem Strang zu ziehen und so einen Beitrag – und sei er noch so gering – dafür zu leisten, dass die Zerstörung der Ökosysteme und das massenhafte Insektensterben gebremst werden. Selbstverständlich handelt es sich an dieser Stelle um einen Prozess. Doch gerade deshalb sind die ersten Schritte wichtig.
Auch Gliederfüßer werden gezählt
Das Bewusstsein für den Ernst der Lage ist in der Bevölkerung erst in den vergangenen Jahren so richtig geschärft worden. Dabei sollen weltweit schon über 40 Prozent der Käfer, Fliegen, Hummeln und Falter von starkem Schwund betroffen sein. Es fehlt nicht an Hochrechnungen mit apokalyptischen Szenarien. Auch nicht an Studien, die intensive Landwirtschaft, Pestizideinsatz, Verstädterung, Düngemitteleinsatz und die Rodung der Wälder als Ursachen für den Rückgang der Lebensräume belegen. Besonders stark betroffen sind aktuellen Statistiken zufolge Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken, Ameisen, Wespen und Bienen. Allerdings muss noch Vieles erforscht werden. Viele Insekten sind hoch spezialisiert, auch was ihre Nahrungsquellen angeht. Wie in der Ornithologie werden inzwischen auch die Gliederfüßer in großen Aktionen gezählt, um Daten hinsichtlich ihrer Bestandsentwicklung zu erheben.
Wer „Insektenschutz“ in die Suchmaschine tippt, bekommt zwar immer noch an erster Stelle Produkte wie Fliegengitter serviert, doch die Erkenntnis, dass der Mensch der Natur nicht beliebig viel Schaden zufügen darf, ist im Scharmbecker Rathaus natürlich nicht neu. Gestaltung und Pflege des öffentlichen Grüns und Schutz der Insektenfauna gehen für Wiesner Hand in Hand. Er verweist auf die ökologische Ausrichtung des sogenannten Meyerhoff-Kreisels in Buschhausen im Jahre 2013.
2014 hat Osterholz-Scharmbeck einstimmig beschlossen, die Deklaration „Kommunen für biologische Vielfalt“ zu unterschreiben und sich den ihr zugrundeliegenden Zielen verpflichtet. Ebenfalls einstimmig das Rats-Votum 2017, einem von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen gemeinsam eingebrachten Antrag zum Schutz der Insektenfauna und zu Maßnahmen, die auf den Erhalt der Artenvielfalt gerichtet sind, zu folgen. Um gefährdeten Insekten Rückzugsmöglichkeiten und dauerhafte Lebensräume zu verschaffen, sollen Kreisverkehre, Straßen- und Ackerränder und ungenutzte öffentliche Grünflächen und die Feldrandstreifen an Wirtschaftswegen mit Blühstreifen beziehungsweise -flächen ausgestattet werden. Die Grünen sehen auch Privathaushalte in der Pflicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas zu unternehmen. Der Kommune käme indes eine „Vorreiterrolle“ zu.
Wiesner sieht vor allem hinsichtlich der Ackerrandstreifen „Potenzial“. Städtischer Grund kam entlang von Wegen, die durch landwirtschaftlich genutzte Areale führen, nicht selten großflächig unter den Pflug. Der Rathaus-Ressortleiter führt exemplarisch den Wandmachers Weg an, wo nach einem Gespräch mit den betroffenen Landwirten die „Grenzen“ neu abgesteckt wurden, um Platz für eine Ausgleichsmaßnahme zu gewinnen. „Da haben wir 2500 Quadratmeter zurückgeholt“, sagt Wiesner, darauf verweisend, dass davon freilich längst nicht alles beackert wurde. Zusätzlich zu der im Rahmen der Kompensation vorgesehenen Bepflanzung ist dort nun reichlich Platz für einen Schmetterlings-Wildbienensaum. Lüße ist überzeugt, dass seine Überzeugungsarbeit bei Landwirten auf fruchtbaren Boden fällt. Und nicht nur dort: Die Schulen kommen mit ins Boot. In der Grundschule Sandhausen läuft ein Projekt, mit dem den Kindern die faszinierende Welt der Insekten nahe gebracht werden soll. Und am Scharmbecker Bach soll in einem schon naturnah gestaltenen Bereich ein „Outdoor-Klassenzimmer“ entstehen.
Wie Wandmachers Weg haben die Insektenschützer auch das Baugebiet Raaland ins Visier genommen. Dort ist ein Großteil der dafür am Tinzenberg vorgesehenen Kompensationsfläche der „freien Sukzession“ überlassen, heißt es. Lediglich für Randbereiche ist dort eine Festlegung erfolgt: auf Ebereschen, Eichen, Haselnusssträuchern, Pappeln und Rotbuchen.
Auch auf kleineren Flächen sollen Insekten Rückzugsmöglichkeiten bekommen. Astern, Minze, Salbei, Fingerhut und Sonnenhut sind nicht nur wichtige Bienennährstauden, sondern erfreuen auch das Auge der Menschen. So wurde die Fläche um das Denkmal gegenüber dem Rathaus neu angelegt. Desgleichen im Bereich Hinter der Wurth. Ebenfalls schon 2018 wurden in der Straße Marktweide gegenüber der Volksbank und in der Bahnhofstraße Bienenblütenmischungen ausgesät. Auch für die Brucknerstraße und den Barkhof hat der Baubetriebshof Wildblumensamen bestellt, um dort Nesseln, Sonnenblumen und Kornblumen anzusiedeln. Viele positive Ansätze sind 2018 allerdings auch durch die anhaltende Trockenheit zunichte gemacht worden.