Buschhausen. Am vergangenen Sonnabend hat sie begonnen, die Metamorphose. Als Werder in Düsseldorf mit aller Macht die 1:0-Führung in der Schlussphase verteidigte, und das grün-weiße Herz von Tobias Wulff ohnehin schon bis zum Hals schlug. Der Schiedsrichteraspirant ist glühender Werder-Anhänger – aber seit zwei Wochen eben auch Schiedsrichteraspirant. Und so ertappte sich Wulff dabei, den umstrittenen und viel diskutierten Platzverweis von Werder-Kapitän Niklas Moisander aus zwei Blickwinkeln zu betrachten.
„Mein Opa hat mich sofort in dem Moment gefragt: Tobi, das siehst Du jetzt mit anderen Augen, oder?“ Und tatsächlich war es genau so. Opa Martin Wulff war selbst jahrelang Schiedsrichter, hat rund zehn Jahre für Scharmbeckstotel an der Pfeife seinen Mann gestanden. Und er hatte am vergangenen Sonnabend das richtige Gefühl, was seinen Enkel angeht. „Tatsächlich habe ich diese Szene mit Moisander nicht nur als Werder-Fan beobachtet, sondern mich wirklich gefragt, wie ich als Schiedsrichter diese Reaktion eines Spielers wohl empfunden hätte“, sagt Tobias Wulff. Am Ende konnte er beide Lager irgendwie verstehen – eine Erkenntnis, die ihm vor Beginn des Schiedsrichterlehrgangs vielleicht nicht so schnell gekommen wäre. Und eine, die ihm künftig helfen soll.
Denn dass es während eines Fußballspiels immer wieder diese Grauzonen gibt, lernt Tobias Wulff im Verlauf des Montagabends. Es geht in erster Linie um die Regel 11. In dieser wird das Thema Abseits behandelt. Dozent Patrik Feyer zeigt verschiedene Videos, in der sich die angehenden Schiedsrichter innerhalb kürzester Zeit entscheiden müssen: Abseits, oder kein Abseits? Kaum eine Szene wirkt auf den ersten Blick eindeutig. Im Ernstfall auf dem Platz hat man aber eben nur diesen einen, ersten Blick. „Abseits, oder kein Abseits?“ fragt Patrik Feyer – und erhält in keinem Fall eine einstimmige Antwort. Manchmal sagt die eine Hälfte „Ja“, die andere „Nein“.
„Wenn man das Gefühl hat, dass es knapp ist, dann ist es meist kein Abseits“, berichtet Feyer von den langjährigen Erfahrungswerten. Eine Garantie gibt es natürlich auch dann nicht. Auch nicht für die Assistenten in der Bundesliga. Obwohl die verdammt nah dran sind. Fast 97 Prozent aller Abseitsentscheidungen stimmen dort nämlich – ein geradezu atemberaubender Wert, wenn man die gegensätzlichen Einschätzungen an diesem Abend bei den gezeigten Videos dagegenstellt.
Am Donnerstagabend geht es dann um die meistdiskutierte Regel im Fußball überhaupt: das Handspiel. Erstaunlicherweise wird dieses Thema recht kurz abgehandelt. Lehrwart Marcus Nettelmann begründet es: „Egal wie lange wir darüber diskutieren: 20 Mal pro Spiel schreit sowieso irgendwer Hand. Man muss sich einfach dran gewöhnen.“ Und am Ende eben damit abfinden, dass es immer wieder Grauzonen geben wird. Ähnlich ist es auch beim „Schimpfwörter-Contest“, den Nettelmann daraufhin eröffnet. Er ruft mehr oder weniger schwere Beleidigungen in den Raum, die Schiedsrichteranwärter sollen entscheiden: Ermahnung, Gelbe Karte, oder Rote Karte. Auch hier gibt es ein geteiltes Echo – und allen wird klar: in vielen Dingen muss man als Schiedsrichter seine eigene Linie finden. Eines eint die Kursteilnehmer aber am Ende des vierten Lehrabends: Die Testergebnisse sind noch ausbaufähig. „Es muss noch mehr geübt werden“, gibt Patrik Feyer den Anwärtern mit auf den Heimweg.
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In unserer wöchentlichen Serie „Der Weg zum Sündenbock“ begleitet die Sportredaktion den Scharmbeckstoteler Tobias Wulff durch den Schiedsrichterlehrgang des Osterholzer Kreisverbands und dokumentiert dessen Weg bis hin zum ersten Schiedsrichtereinsatz.