Worpswede. Menschenleere Stadtlandschaften mit langen, dunklen Schatten und starken Hell-Dunkel-Kontrasten stehen ungegenständlichen informellen Werken und Assemblagen gegenüber. Lothar Brix stellte sich immer neuen künstlerischen Herausforderungen, forschte und experimentierte und variierte so seine Motivwelt ebenso wie seine Malweise. Die Kunst war für ihn immer auch ein Abenteuer, in dem er neben der Malerei die Bildhauerei für sich eroberte. Der Neue Worpsweder Kunstverein (NWWK) zeigt jetzt eine Retrospektive des Künstlers in seinen Räumen im Hotel Village.
Lothar Brix, der im schlesischen Hirschfeld geboren wurde, studierte zunächst in Göttingen und später in Boston Kunst-und Musikwissenschaften. Zunächst wandte er sich der theoretischen Arbeit zu, hatte verschiedene Lehraufträge und verfasste Schriften zu Kunst und Musik. Nach Jahren der Theorie folgte die Praxis: Brix begann zu komponieren und zu malen. Seine Ateliers hatte er in Heilshorn und La Palma und ließ sich hier wie dort zu seinen Arbeiten inspirieren.
Künstler starb in diesem Jahr
Am Beginn seines Schaffens steht der „Cineastische Realismus“, der ein wenig an das Werk den amerikanischen Künstlers Edward Hopper erinnert. Die menschenleeren Straßen und Plätze wirken einsam, kühl und abweisend, aber auch geheimnisvoll und manchmal surreal. Man glaubt fast, eine Kulisse oder ein Standbild vor sich zu haben, in dem gleich eine Handlung zu erwarten ist. In den Innenräumen bilden die Gegenstände durch das einfallende Licht harte Schatten an den kahlen Wänden, sodass eine kühle Atmosphäre entsteht. Die Möbel – wie ein grüner Sessel an einem Fenster – stehen als Stellvertreter für ihre Bewohner. Die Räume werden zu Seelenräumen, denen Geschichten innewohnen, die durch die Intuition und Fantasie des Betrachters erzählt werden können.
Im völligen Kontrast dazu stehen die ungegenständlichen, informellen Werke, in denen Farben, Zeichen und Material zum Bildgegenstand werden. Der Auftrag der Farbe erfolgte in mehreren Schichten, wobei die pastose Schicht oft den Charakter eines Feinreliefs hat. Mit Farbe, Schamott und Sand entwickelte der Künstler unterschiedliche Schichten, kratzte Teile wieder frei und drückte Muster und Linien hinein. Diese Arbeiten mit ihren oft spröden und rauen Oberflächen erinnern an altes Mauerwerk. Es scheint dann so, als habe man einige Schichten freigelegt, während andere sich noch hinter Farbschichten verbergen. Manchmal sind eingeritzte Zeichen zu erkennen, die Hieroglyphen ähnlich sind und zu Geheimnisträgern werden.
Oft arbeitete der Künstler auch völlig kunstfremde Dinge aus dem Alltag ein, wie Metall, Papier, Flechtwerk, Stoffe oder zarte, feine Fasern von der Rinde einer Palme. Auf diese Weise entstehen eindringliche Spannungsfelder versehen mit Linien und Strukturen, die einen archaischen Charakter aufweisen und an Höhlenmalerei erinnern. Manchmal ist auch ein Gefäß, eine Tasse oder eine Schale zu erkennen. Farblich bewegt sich der Künstler vor allem in der Familie der Ockertöne. Aus einem Ockerbruch in der Provence brachte er sich meist die Pigmente mit, mischte sie nach seinen Vorstellungen und schuf so einmalige Farbklänge.
Arbeiten zur Pandemie
Mit seinen Köpfen wandte sich Lothar Brix auch der Skulptur zu. Aus verschiedenen Schichten Beton baute er die einzelnen Figuren auf. Das Material wählte er, weil es durch seine Struktur spröde, aber auch verletzlich erscheint. Der Künstler schuf auf diese Weise individuelle Persönlichkeiten, die Spuren des Lebens zeigen und durch Erfahrungen geprägt sind. Accessoires wie Ketten und Ohrringe bestehen aus Schrauben, Muttern oder verrosteten Metallteilen. Es sind meist treuherzige Gesichter, die uns anschauen „ein wenig einfältig, aber lieb“, sagte der Künstler selbst einmal, dem es darum ging, friedliche Zeitgenossen zu schaffen.
Die jüngsten Arbeiten von Lothar Brix, der in diesem Jahr verstarb, stammen aus der Corona-Zeit. Hier tauchen in Kompositionen aus weißen und roten Flächen, abstrakten Zeichen und Linien plötzlich Telefone auf. „The long distance call“ ist der Titel der Arbeiten, die auf Ferngespräche als oft einziges Kommunikationsmittel in der Pandemie anspielen.
So spannt die Ausstellung den Bogen von den frühen Arbeiten bis in die Gegenwart. Sie vermittelt dem Betrachter die Vielseitigkeit und Experimentierfreudigkeit des Künstlers, der durch die Strahlkraft seiner Werke wirkt.
Aufgrund der Pandemie musste die Ausstellung mehrfach verschoben werden, sodass Lothar Brix seine Retrospektive noch vorbereiten, aber nicht mehr erleben konnte. Auch die offizielle Eröffnung, die für Dezember vorgesehen war, fand nicht statt, soll aber – wenn möglich – nachgeholt werden, so der NWWK.