Der Berg voller alter Holzlatten wächst und wächst. Längst reicht er über die Köpfe der Schüler hinweg, die hier unentwegt für Nachschub sorgen, während die Klassenkameraden den Haufen von unten wieder abbauen und alles zu einem großen Container karren. Für den zehnten Jahrgang der Integrierten Gesamtschule (IGS) Osterholz-Scharmbeck sind es die letzten Tage des Schuljahres. Für manche Schülerinnen und Schüler auch die letzten Tage ihres Schullebens. Aber an diesen zeigen sie noch einmal ganz besonders, dass sie zu Leistungen fähig sind.
Vier zehnte Klassen verbringen zwei Tage in der Gedenkstätte Lager Sandbostel, um hier aufzuräumen. „Die Aktion gehört zu unserem Spuren-Projekt“, erklärt Jahrgangsleiterin und Klassenlehrerin Maria Nadolny. An der IGS ist es schöne Tradition, dass die Schülerinnen und Schüler der zehnten Jahrgänge, die von der Schule abgehen, dort Spuren von sich hinterlassen. Auf diese Weise, erzählt die Lehrerin, ist schon ein Labyrinth entstanden, wurden Klassenräume renoviert oder die Mensa mit Mosaiken verschönert. In diesem Jahr aber waren die Zehntklässler ein wenig ratlos, ob sie am Lernort der vergangenen Jahre überhaupt Spuren von sich hinterlassen sollten. „Es könnte sein, dass unser Schulgebäude abgerissen wird“, sagt der 17-jährige Sebastian. Dann wären auch die gerade erst gelegten Spuren futsch. Kein schöner Gedanke für die Zehntklässler. Deshalb haben sie gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern überlegt, wie die Spuren diesmal aussehen könnten. Und sind zu einem Entschluss gekommen, der Leitung und Mitarbeiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel jubeln lässt. Seit dem Vormittag schon stehen sie in den Steinbaracken im Staub und schaffen nach draußen, was dort seit Jahrzehnten herumlag. 102 Schülerinnen und Schüler sowie acht Lehrkräfte haben sich zuvor gruppenweise von Lars Hellwinkel, Lehrer an der Gedenkstätte, auf die einzelnen Baracken aufteilen und erzählen lassen, was zu tun ist. „Die haben richtig Lust, und für uns ist das eine riesige Hilfe“, sagt der Pädagoge sichtlich erfreut. „Wir sind hier nur vier feste Mitarbeiter und könnten das gar nicht schaffen.“ Solche Aufräumaktionen gibt es zwar immer mal wieder auf dem Gelände. Doch mit über 200 fleißigen Händen konnten die Mitarbeiter nie rechnen. „Meistens kommen zwischen zehn und 20 ehrenamtliche Helfer.“ Besonders erfreut ist Lars Hellwinkel darüber, dass die Schüler ihre Hilfe von sich aus angeboten haben. Die Gedenkstätte kannten die Jugendlichen schon aus dem neunten Jahrgang. Auch die IGS nutzt, wenn es um das Thema Nationalsozialismus geht, die Gelegenheit, die sich ihnen gewissermaßen vor der eigenen Haustür bietet.
313 000 Menschen aus 55 Nationen wurden im Stammlager B im zehnten Wehrkreis, kurz Stalag XB, wie das NS-Lager in Sandbostel offiziell hieß, interniert und als Zwangsarbeiter missbraucht. Hunderte von ihnen starben noch nach der Befreiung an den Folgen von Hunger, Typhus und anderen Krankheiten. Lars Hellwinkel führt die jungen Gäste aus den Schulen dann meistens zuerst zur Kriegsgräberstätte. Er kennt die staunenden Blicke. „Ich habe gar nicht gewusst, dass hier ein Ort ist, wo Tausende sowjetische Soldaten liegen“, sagen ihm die Mädchen und Jungen oft. Und später halten sie dann Tonziegel in ihren Händen und ritzen still und konzentriert Buchstaben ein, um den toten Soldaten ihre Namen wiederzugeben. Die sowjetischen Gefangenen waren in der menschenverachtenden Hierarchie im Lager der unterste Rand.
„Wir haben auch an dem Ziegelstein-Projekt teilgenommen“, berichtet die 16-jährige Anna. „Wir konnten dabei viel besser verstehen, wie grausam das hier war.“ Der Wunsch, noch mal auf das Gelände zu kommen und etwas dazu beizutragen, dass die Erinnerung wach bleibt, sei danach immer da gewesen, berichten die Schüler. Als jetzt die Spuren-Frage im Raum stand, lag es einfach nahe, hier noch einmal her zu kommen. „Hier gibt es viel zu tun“, weiß der 17-jährige Kristan. Bei ihnen an der Schule, meint die 16-jährige Melanie, gebe es so viele Spuren, „die vielleicht irgendwann auch vergessen sind“. Aber hier, sagt der gleichaltrige Moritz, „können wir auch den Hinterbliebenen noch etwas geben“. „Unsere Taten bleiben bestehen“, meint der 15-jährige Thore. Dann binden sich alle wieder ihre Staubmasken vor Mund und Nase und greifen zu Besen und Schaufel. Ende 2015 hatte der Landkreis Rotenburg vier Steinbaracken, ein Toilettengebäude und die ehemalige katholische Kirche erworben, die aus der Zeit stammt, als das Lager Sandbostel DDR-Flüchtlinge aufgenommen hatte. Aus den Baracken, die zwischenzeitlich privat genutzt wurden, schaffen die Schülerinnen und Schüler nun jede Menge Schutt nach draußen – kaputte Möbel, Steine, ergraute Gardinen. Manchen Gebäuden fehlt das Dach, in den Räumen hat sich die Natur ihren Platz zurückerobert. Es wachsen kleine Bäume und Sträucher. Aus den Ritzen sprießt Gras. „Es waren die ersten Baracken, die 1939 gebaut wurden“, erklärt der Gedenkstätten-Lehrer. „Sie sollten 250 Kriegsgefangene aufnehmen.“ Nun werden daraus begehbare Ruinen. „Die Besucher sollen in die Räume hineingehen und die Raumstruktur nachvollziehen können.“
Mit dem Einmarsch in Frankreich reichte der Platz nicht mehr aus. Die Nationalsozialisten bauten ab 1940 noch etliche Holzbaracken auf das Gelände. Dort haben ein paar Schülergruppen bereits den ersten von vier großen Containern mit Holzlatten gefüllt. Das Holz stammt noch vom Ausbau der Ausstellungsbaracke, erzählt Lars Hellwinkel. Es lagert nun schon einige Jahre in den Baracken, „und wir haben Angst vor dem Holzwurm“. Das meiste haben die Jugendlichen schon nach draußen geschleppt. Lars Hellwinkel dreht seine Runde übers Gelände und freut sich über den „Eifer und die Kraft“ der Schüler. Der erste schweißtreibende Tag in Sandbostel ist noch gar nicht zu Ende. Aber sie sind schon jetzt sehr tief, die Spuren des zehnten IGS-Jahrgangs 2017.