Herr Riedesel, Herr Moje, vor 50 Jahren wurde die Samtgemeinde Tarmstedt gebildet. Hat sich das Konstrukt mit seinen acht eigenständigen Gemeinden bewährt?
Traugott Riedesel: Ja. In den 38 Jahren Kommunalpolitik, die ich überblicke, habe ich in den verschiedenen Gemeinden zwar durchaus unterschiedlich wirkmächtige Bürgermeister erlebt. Zurzeit habe ich aber das Gefühl, dass die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister starke Persönlichkeiten sind und sehr gut wissen, was sie wollen und was sie tun. Sie sind bereit, sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen.
Was sind denn die Zukunftsfragen?
Riedesel: Das sind die Fragen, die die Menschen überall in Deutschland und in der Welt bewegen. Und weil die Dörfer aus meiner Sicht der Mittelpunkt der Welt sind, spiegelt sich hier alles wider, was sich in der großen Welt ereignet. Natürlich befassen wir uns mit der Energiewende, mit der Planung des Umgangs mit dem Klimawandel, den wir längst erleben, mit der Neuorientierung der Landwirtschaft, mit der Veränderung des Landschaftsbilds.
Durch die großen Windparks?
Riedesel: Die Windenergie ist eine der zukunftweisenden Formen der Stromproduktion. Hier auf dem Land entscheidet sich die Zukunft der Energieversorgung Deutschlands. Die Energieproduktion regionalisiert sich, sodass ein großer Teil der Wertschöpfung in die ländlichen Regionen zurückkehren kann, wenn man die richtigen Zukunftsentscheidungen trifft.
Oliver Moje: Samtgemeinde und Mitgliedsgemeinden sind gerade dabei, einige solcher Entscheidungen zu treffen. Durch die spezielle Konstruktion der Samtgemeinde sind die Abstimmungsprozesse aufwendiger als das bei einer Einheitsgemeinde der Fall wäre. Das betrifft Fragen wie zum Beispiel die Gründung einer kommunalen Energie-Gesellschaft oder -Genossenschaft. Bislang ist es so, dass die Gemeinden die gesetzliche Kompetenz dafür haben, nicht aber die Samtgemeinde.
Was kommt im Zuge der Energiewende auf die Samtgemeinde zu?
Moje: Allein das Projekt THB West mit möglicherweise 50 plus X Windrädern zwischen Tarmstedt und Breddorf ist eine Investition von mehreren Hundert Millionen Euro. Davon werden sowohl die Standortgemeinden als auch die Samtgemeinde finanziell profitieren, aber es wird sich dadurch eben auch unsere Landschaft gravierend ändern. Dabei muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Planungshoheit beim Landkreis und nicht bei uns liegt. Wichtig ist für mich, dass ein möglichst großer Teil der Wertschöpfung in der Samtgemeinde bleibt und dass unsere Bevölkerung davon profitieren kann, am besten über eine direkte kommunale und Bürgerbeteiligung. Es eröffnen sich aber auch andere Perspektiven, wenn wir hier in fünf bis sieben Jahren Strom im Überfluss produzieren. Das könnte uns zum Beispiel völlig neue Möglichkeiten für das Heizen unserer Häuser eröffnen, entweder über die Abwärmenutzung von Elektrolyseuren oder Großwärmepumpen. Entsprechende Konzepte sollen möglichst parallel zu den Windparkplanungen entwickelt werden.
Riedesel: Meine Vision ist, dass der Strom für unsere Bürger zehn Cent unterm Marktpreis liegt. Denn die Energie- und Heizungswende ist stromabhängig. Bei den hohen Strompreisen können wir auf dem Land aber keine Wärmepumpen installieren. Wichtig ist, dass der Strom aus den Windparks nicht nur in die großen Netze eingespeist wird, sondern auch in lokale Netze, damit wir von den geringen Herstellungskosten des Stroms, die nur wenige Cent betragen, profitieren. Das sollte auch für die geplanten großen Solarparks gelten. Und sollte es neue Windräder in Wilstedt geben, streben wir an, dass sich Bürger und Gemeinde an einer Anlage direkt beteiligen.
Wie funktioniert das kommunale Zusammenspiel in Tarmstedt?
Riedesel: Aus meiner Sicht sehr gut. Wir haben keinen zentralen und dominierenden Hauptort, der die anderen Gemeinden majorisieren könnte, die Bevölkerung ist recht gut auf die Dörfer verteilt. Die Gemeinden sind für sich gesehen relativ leistungsstark und können echte Akteure sein, was für gesunden Wettbewerb untereinander sorgt. Wenn ich eins gelernt habe: Obwohl mein Denken eher sozialistisch ist, finde ich Konkurrenz gut.
Moje: In einer Einheitsgemeinde, das sage ich wirklich ganz wertfrei, tauchen bestimmte Fragestellungen gar nicht auf. Einige Verwaltungsvorgänge wären einfacher. Unsere Kämmerei müsste nicht die Haushalte und Jahresabschlüsse von acht Mitgliedsgemeinden plus der Samtgemeinde aufstellen, sondern nur jeweils einen. Viele Dinge sind in den letzten Jahren komplexer geworden, beispielsweise die Kinderbetreuung, die massiv ausgebaut und professionalisiert worden ist. Das macht es für die ehrenamtlichen Bürgermeister immer komplizierter und aufwendiger.
Wenn keiner mehr den ehrenamtlichen Bürgermeister-Job machen will, ist die Samtgemeinde am Ende?
Riedesel: Ich würde lieber über die Stärken der Samtgemeinde sprechen. Die Bürger entfremden sich in vielen Bereichen von der Politik oder fühlen sich von ihr im Stich gelassen oder nicht gewürdigt. Das trägt zu einem unguten politischen Klima bei. Meine Erfahrung sagt mir, dass eine gute Kommunalpolitik, die versucht, nah bei den Bürgern zu bleiben und sich trotzdem den Zukunftsfragen stellt, das beste Instrument ist, um den Menschen zu verdeutlichen: Der Staat ist nicht irgendwas, was fern von ihnen existiert. Vielmehr sind die Bürger der Staat, in dem sie sich selbstverständlich einbringen müssen. Es geht um aktive Teilnahme an politischen Prozessen, und die können nirgendwo sonst so gut geführt werden wie kommunal.
Die Kommunalpolitik als Ort der gelebten Demokratie?
Riedesel: Absolut. Deswegen sind alle Prozesse der Bürgerbeteiligung so wichtig. Möglichst viel Bürgerbeteiligung zu haben, das ist auch eine Zukunftsaufgabe. Die Bürgerbeteiligung sollte die Entscheidungen der Politik aber nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Was hat die Samtgemeinde denn richtig gut hingekriegt?
Moje: Unsere KGS in Tarmstedt, die seit vielen Jahren sogar eine Oberstufe hat, ist ein gutes Beispiel für die Stärke der Samtgemeinde, eine echte Erfolgsgeschichte. So etwas gab es hier in diesen ländlichen Strukturen in den 1970er-Jahren einfach nicht, das war eine totale Neuerung, die es erstmals ermöglicht hat, in einem verhältnismäßig kleinen Ort wie Tarmstedt ein gymnasiales Bildungsangebot zu schaffen.
Riedesel: Diese Kooperative Gesamtschule ist in einer Samtgemeinde entstanden. Die Einheitsgemeinden um uns herum haben das nicht, siehe Grasberg. In Worpswede gibt es sogar nur noch eine Grundschule. Die eigentlich eher arme Region, die das hier war, hat mit dieser großartigen Gesamtschule ein verbindendes Element für unsere Dörfer geschaffen, das viel stärker ist als irgendeine kommunale Verwaltung es hätte sein können. Ein gemeinschaftliches Projekt von Samtgemeinde und Gemeinden, ein bemerkenswertes Konsensthema.
Blicken wir doch noch mal auf den ehrenamtlichen Bürgermeister-Job. Besteht da nicht die Gefahr der Überforderungen und Selbstausbeutung?
Riedesel: Die Aufgabe macht Spaß, wenn man Lust dazu hat. Die Zeit, die man einsetzt, sollte man mit der vergleichen, die man für ein intensives Hobby verwendet. Es wird schwierig, ein anderes Hobby nebenbei zu haben. Allerdings leistet sich Wilstedt eine sehr gut ausgebildete Gemeindeangestellte, ohne sie hätte ich den Bürgermeister nicht so ohne Weiteres neben meiner ärztlichen Tätigkeit machen können. Und auch jetzt als Rentner hätte ich keine Lust, die ganzen Mails zu beantworten.
Moje: Es wird zwar schon lange von Entbürokratisierung gesprochen, faktisch wird aber alles zunehmend komplizierter. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die Erweiterung unserer Grundschule mussten wir erst einmal per Ausschreibung ein Fachbüro suchen, das für uns die Ausschreibung der Gewerke macht, weil wir als verhältnismäßig kleine Verwaltung gar nicht in der Lage sind, das vorgeschriebene europaweite Verfahren umzusetzen. Das kostet eine Menge Zeit und Steuergeld.
Riedesel: Manches muss EU-weit ausgeschrieben werden, was wirklich nicht sein müsste. Das ist schon grotesk.
Was haben die Mitgliedsgemeinden gemeinsam?
Moje: Die großen Probleme bei der Kinderbetreuung. Die Personalgewinnung wird immer schwieriger, und erst recht die Finanzierung. Inzwischen tragen die Kommunen über 50 Prozent des Defizits, vereinbart waren eigentlich 30 Prozent. Diese Kosten werden die Gemeindefinanzen mittelfristig kaputt machen.
Riedesel: Die Kosten steigen viel stärker als unsere Einnahmen.
Wird es eine Feier zum Geburtstag der Samtgemeinde Tarmstedt geben?
Moje: Wir planen einen kleinen Empfang. Der soll am 1. Juli im Rathaus stattfinden, auf den Tag genau 50 Jahre nach der konstituierenden Sitzung des ersten Samtgemeinderates.
Riedesel: Wir sind eben bescheiden. Wir wollen uns lieber für das feiern lassen, was wir vorhaben als für das, was wir gemacht haben.