Es beginnt mit einer vagen Idee, einem schemenhaften Bild vor Augen. Die Computermaus rotiert auf dem Schreibtisch, bis Stunden später eine realistische Darstellung eines Gebäudes entstanden ist. Noch existiert es auf einem Bogen Papier, irgendwann aber wird das Gebilde dort stehen, wo zuvor nackte Wiese war. Mit der Vorstellungskraft Neues erschaffen – das macht Philipp Witschkes Traumberuf aus. Der 18-Jährige, der gerade seine Abiturprüfungen abgelegt hat, wird zum Wintersemester sein duales Studium zum Bauingenieur im Planungsbüro Tollé in Verden beginnen. Alle drei Monate wird Witschke zwischen Ausbildungsbetrieb und Hörsaal wechseln. Nach seinem Abschluss wird er gefragt sein auf dem Arbeitsmarkt, denn der Fachkräftemangel hat die Branche seit einigen Jahren fest im Griff.
"Ein ganzer Schwung Architekten wird in den Ruhestand gehen und es kommen einfach nicht genug junge Leute nach", fasst Chefin Sandra Tollé zusammen. Nun gehe es darum, vor dem Generationswechsel aktiv zu werden. "Wissenserhaltung ist ein wichtiges Thema für ein Büro in dieser Größe. Das technische Wissen ist das eine, das andere ist das Kunden- und Unternehmenswissen, das weitergegeben werden muss", sagt Anton Jordanland, einer der vier Praxisbetreuer der Studierenden in dem Unternehmen. Darüber hinaus erfordert der anhaltende Bauboom zusätzliches Personal, das es am Markt aber derzeit nicht gibt. Bis zu zehn Stellen für Architekten und Bauingenieure sind nach Angaben des Planungsbüros Tollé, das deutschlandweit und in der Schweiz tätig ist, derzeit offen.
Arbeitsmarkt im Wandel
Grund für den Mangel an Bewerbern ist der Wandel des Arbeitsmarktes, sagt Siegfried Deutsch, der Leiter der IHK-Geschäftsstelle in Verden. "Der Arbeitsmarkt und die Optionen sind größer und vielfältiger geworden", sagt der Fachmann von der Industrie- und Handelskammer. Faktoren wie Aufstiegschancen, Familienfreundlichkeit und die Identifikation mit dem Unternehmen sind für junge, gut ausgebildete Menschen heute entscheidend. "Der Arbeitgeber muss als Marke bei den Bewerbern erkennbar sein." Um attraktiv für potenzielle Arbeitnehmer zu sein, müssen sich Unternehmen heute mehr ins Zeug legen.
Mit dem dualen Studium möchte das Büro Tollé Absolventen längerfristig an sich binden. "Wir haben Leute, die sich damit identifizieren und somit kaum Fluktuation", beschreibt Leif Tollé, Mitglied der Geschäftsführung, die Stärke des Familienunternehmens mit rund 60 Mitarbeitern. Das Büro, das unter anderem Logistikzentren, Brücken und Wohnkomplexe umsetzt, sich aber auch auf Denkmalschutz versteht, wurde vor drei Jahren zur Ausbildungsstätte für das Bauingenieur- und Architekturwesen. Das auf Initiative des heutigen Studenten Hannes Tietje, der sich bei Sandra Tollé um einen Platz für den Praxisanteil bewarb, den er für das Studium an der Hochschule 21 in Buxtehude benötigte. "Es ist nah an meinem Wohnort und ein großes Büro, das habe ich als Vorteile gesehen", erzählt der Student, warum das Unternehmen an der Lindhooper Straße sein Favorit war. Zwei Semester trennen den 21-Jährigen noch vom Bachelor-Abschluss, dem ersten akademischen Grad, nach dem er in der Architekten-Kammer aufgenommen werden könnte. Der Verdener, der während der Vorlesungszeit in einer Wohngemeinschaft in der Nähe der Hochschule lebt, möchte aber weiter seinen Master machen. Die Übernahme im 1978 von Fritz-Dieter Tollé gegründeten Unternehmen ist ihm schon jetzt so gut wie sicher.
Erste Projekte unter Aufsicht
"In den drei Monaten im Büro bekommt man kein eigenes Projekt, es geht meist um Visualisierung und man kann bei Entwurfsplanungen mit einsteigen", berichtet Tietje von dem praktischen Teil seiner Ausbildung. Immer wenn er an seinen Schreibtisch zurückkehrt, hat er sich neues Wissen angeeignet, das er in der Praxis erprobt. Mit dem Architekten Jowan Huran steht dem Studenten ein fester Ansprechpartner zur Seite. Unter seiner Regie hat Tietje eine Reihe von Entwürfen erstellt – vor der Treppe eines modernen Glasbaus, bis zur Fassade eines großen Wohnkomplexes. In der Theorie sieht Vieles meist einfacher aus. Das erfährt auch Tietje. "Im Studium haben wir fiktive Aufgaben, man hat nicht den realen Bezug zu den Bauherren", sagt er.
Seine Chefin Sandra Tollé hätte sich für ihr Studium um die Jahrtausendwende herum einen stärkeren Bezug zur Wirklichkeit gewünscht. "Als ich Studentin war, gab es das noch nicht. Man hat gemerkt, dass einem etwas fehlte." Im Praxissemester ging es in den Betrieb, doch die harte Realität folgte erst nach dem Abschluss. "Was geplant wird, wird auch gebaut", sagt Tollé, ist ein Grundsatz, der sich in ihrer Zeit als Berufsanfängerin eingebrannt hatte.
Der Fachkräftemangel macht zwar vor den akademischen Berufen nicht Halt, am stärksten trifft er aber Industrie, Handwerk, Logistik sowie den sozialen Bereich, etwa in der Pflege, im Krankenhaus und in der Kinderbetreuung. Das hängt laut Siegfried Deutsch von der IHK mit dem sogenannten "Academic Drift", der Akademisierung der Bildung, zusammen. Immer mehr Schulabgänger zieht es an die Unis. Dass die Jobchancen mit einem Studienabschluss automatisch besser werden, sei ein Irrglaube: "Der Anteil an akademischen Plätzen am Gesamtvolumen der Arbeitsplätze wird nicht steigen", betont Deutsch. Der liegt ihm zufolge in Deutschland bei etwa 30 Prozent.
Dass der Andrang auf Studienfächer mit technisch-naturwissenschaftlichem Bezug im Gegensatz zu anderen Disziplinen eher verhalten ist, sei kein neues Phänomen. Der Landkreis Verden hat deshalb die Initiative "Bau auf MINT" ins Leben gerufen, wobei jeder der vier Buchstaben für ein technisches oder naturwissenschaftliches Fachgebiet steht. Philipp Witschke brauchte keine Werbung, um sich für den Beruf des Bauingenieurs zu entscheiden. Ab Herbst wird er der zweite Student im Hause Tollé sein. Dem Abiturienten aus Bruchhausen-Vilsen war es wichtig, seinen Traumberuf an der Universität nicht nur theoretisch kennenzulernen. Schon als Schüler half er als Ausgleich zum Lernen im Autohaus des Vaters aus. "Ich brauchte diese Abwechslung neben der Schule einfach."
Die Kooperation mit der Hochschule 21 möchte das Büro Tollé, das eine Zweigstelle in Düsseldorf hat, weiterführen und verstärkt ausbilden. Die Kontaktaufnahme ist unter der E-Mailadresse jana.koeter@tolle-architekten.de möglich.