Wer wissen will, wie die Stadt Verden wurde, was sie heute ist, muss nicht Jahrhunderte in die Zeit zurückreisen. Fünfzig Jahre reichen dafür auch, denn am 15. März 1972 wurde im Kreishaus der sogenannte Gebietsänderungsvertrag unterzeichnet, wie das Vertragswerk im Verwaltungsdeutsch heißt. Sprich: Die Gebietsreform wurde vertraglich wirksam und die Ortschaften Borstel, Walle, Eitze, Scharnhorst, Dauelsen-Eissel, Döhlbergen-Hutbergen und Hönisch in die Stadt Verden eingemeindet. Mit einem Festakt wurde der Jahrestag der Gebietsreform am Dienstag im Ratssaal begangen. Wegen der Corona-Pandemie wurde der Rahmen kleingehalten und der Festakt live im Internet gestreamt.
Neben den Ortsbürgermeistern und -meisterinnen der Ortschaften sowie Verdens Bürgermeister Lutz Brockmann waren mit Wolfgang Krippendorff und seiner Frau Kristin auch zwei Zeitzeugen eingeladen. Wolfgang Krippendorff hatte damals auch die Vorbereitungen der Gebietsreform als Mitglied des Gemeinderats und stellvertretender Bürgermeister in Eitze selbst miterlebt.
Für die Stadt ausgezahlt
Wie Brockmann betonte, habe sich die Gebietsreform auch für die Stadt ausgezahlt. "Verden ist dadurch schlagartig von 17.000 auf 23.000 Einwohner und in der Fläche von zwölf auf 71 Quadratkilometer gewachsen", sagte er. Der Vertrag sei damals mit den Ortschaften auf Augenhöhe geschlossen worden. "Deshalb gilt er bis heute", so der Verwaltungschef. In allen Angelegenheiten würden die zuständigen Ortsräte gehört und beteiligt. "Nichts passiert gegen den Willen der Ortsräte", sagte Brockmann. Das liege allerdings auch daran, dass die Ortsräte auch das Gesamtwohl der Stadt im Blick hätten. Auch einige Partnerstädte, etwa Havelberg, hätten das Modell später übernommen. Brockmann betonte, dass es in erster Linie die Bürger seien, die sich für die Demokratie engagierten. "Ich hoffe, dass auch kommende Generationen das so weiterführen."
Zunächst ging es aber wieder in die Vergangenheit, die Stadtarchivarin Wencke Hinz per Kurzvortrag für die Zuhörer ausbreitete. Demnach gab es seit den 1950er-Jahren als umfassende Reformprozesse in Deutschland neben der Flurbereinigung, mit der vor allem landwirtschaftliche Flächen zusammengelegt werden, die Gebietsreform. Bestrebungen, ein Nordwest-Bundesland zu bilden, hätten allerdings nicht zum Erfolg geführt. "Die Umsetzung der Gebietsreform durch die lokalen Akteure war ein langer Prozess", sagte Wencke Hinz. Der Vertrag, der dann am 15. März 1972 unterzeichnet wurde, regelte viele Rechte und Pflichten, unter anderem die Einteilungen der Jagdbezirke, die Tradition der Hausschlachtungen sowie Wegebau und Trinkwasserversorgung. Bis in die 1980er-Jahre gab es Arbeitsgruppen zur praktischen Umsetzung des Gebietsänderungsvertrags. In den Jahren 1981, 91 und 96 kamen Ergänzungen hinzu. Seit 2016 ist die fünfte Änderung bis heute in Kraft. "Insgesamt ist die Gebietsreform nach einmütiger Aussage eine lokalpolitische Erfolgsgeschichte", so die Stadtarchivarin. Wie die Unterzeichnung des Vertrags damals im Kreishaus vonstatten ging, zeigte eine kurze Filmdokumentation des Schmalfilmclubs Verden – untermalt mit Western-Filmmusik à la Ennio Morricone.
Fritz Berner als Motor
Wolfgang Krippendorff erinnerte sich, dass vor allem der damalige Oberkreisdirektor Fritz Berner die Gebietsreform vorangetrieben habe. "Der wollte nicht warten, bis das Land Niedersachsen die Reform durchsetzen würde und hat gesagt, wir müssen handeln." Im Gemeinderat Eitze sei anfangs die Frage diskutiert worden, ob die Ortschaft sich Verden oder Averbergen anschließen solle. Die Entscheidung für Verden fiel dann laut Krippendorff schnell. Von der Gebietsreform habe auch die Stadt sehr profitiert, denn sie habe erst spät begonnen, Industrie anzusiedeln. "Ohne die Ortschaften und ihre Flächen wäre es mit Verdens wirtschaftlicher Entwicklung mangels Grundstücken nicht weitergegangen", erzählte Krippendorff. Dies sei, so Brockmann, für beide Seiten positiv gewesen, denn die Ortschaften hätten die städtische Infrastruktur nutzen können, etwa den Anschluss ans Kanalnetz, den Wegebau und vieles mehr.
Anschließend zogen die Ortsbürgermeisterinnen und -bürgermeister ein Fazit der Gebietsreform für ihre Ortschaft. Unter dem Strich, so die einhellige Meinung sei es der richtige Weg gewesen. "Vieles ist eingeführt worden, um die Ortschaften zu stärken", sagte Anja König, Bürgermeisterin in Eitze. So sei im Gesetz nicht mehr wie anfangs von Ortsteilen die Rede gewesen, sondern in der gültigen Fassung von Ortschaften. Wolf Hertz-Kleptow, damals 16 Jahre alt, erzählte, dass es in Hönisch nach der Gebietsreform einen Zehnjahresplan gegeben habe. Dieser sah unter anderem die Einrichtung eines Kindergartens, eine Ampelanlage an der B215 sowie den Anschluss ans Kanalnetz und den Linienbusverkehr vor. "Diese Punkte sind umgesetzt", zog Hertz-Kleptow ein positives Fazit.
Auch Detlef Peterson (Walle), Jürgen Weidemann (Borstel), Mischa Meininger (Döhlbergen-Hutbergen) und Sabine Patzer-Janßen (Dauelsen-Eissel) äußerten sich zufrieden und erzählten die eine oder andere Anekdote. Gerard-Otto Dyck (Scharnhorst) versuchte sich sogar an einem Gedicht über die Gebietsreform. Einig waren sich die Bürgermeister auch darin, dass der Ortsrat ein wichtiges Instrument der Demokratie sei. Gerade für junge Nachwuchspolitiker sei der Ortsrat meist ein erster Schritt, um, beispielsweise, später Bürgermeister zu werden.