Erst als ihm nach der Urteilsbegründung endlich die Fußfesseln abgenommen wurden, schien der junge Mann zu begreifen, dass sich seine Lebenssituation gerade gravierend geändert hatte: Nach fast genau einem halben Jahr war die Untersuchungshaft vorbei und er brauchte nicht mehr zu befürchten, nun auch noch Strafhaft verbüßen zu müssen. Vorerst jedenfalls. Seine Auseinandersetzung mit einem Mitbewohner in einer Verdener Unterkunft für Geflüchtete hat längst nicht die Folgen, die ihm bei einer Bestätigung der heftigen Anklagevorwürfe gedroht hätten. Er erhielt wegen Körperverletzung sechs Monate Gefängnis auf Bewährung.
Die Staatsanwaltschaft hatte ihm ursprünglich nicht nur gefährliche Körperverletzung, sondern sogar versuchten Totschlag zur Last gelegt. Dass von Letzterem wohl nicht die Rede sein könnte, hatte sich im Prozess vor dem Verdener Schwurgericht schnell herausgestellt. Die Kammer kam nach dreitägiger Beweisaufnahme aber auch zu dem Schluss, dass der Angeklagte „nur“ einfache Körperverletzung an dem zehn Jahre älteren Mann begangen hat. Unterm Strich hätten sich lediglich zwei relevante Schläge mit der flachen Hand gegen den Kopf des Kontrahenten deutlich feststellen lassen. „Es wurden auch welche abgeblockt.“ Die Verletzungen, eine im Bereich des Auges und eine an der Lippe, seien als gering einzustufen.
Nicht lückenlos geklärt
Was genau sich am Abend des 21. Juli vergangenen Jahres im früheren Hotel „Verdener Hof“ zwischen den beiden Bewohnern abgespielt hat, konnte nicht lückenlos geklärt werden. Die Angaben des Angeklagten, der psychisch beeinträchtigt sein dürfte, und des damals wie so oft alkoholisierten Geschädigten wiesen Widersprüche und gegenseitige Schuldzuweisungen auf und waren nicht dazu geeignet, ein klares Bild der Abläufe zu zeichnen. Dass der Streit und die Keilerei nicht das Ausmaß angenommen hatten, das die Anklageschrift dann vermittelte, ergab sich nach Auffassung des Gerichts auch aus den Aussagen der weiteren vernommenen Zeuginnen und Zeugen.
So hätten die Polizeibeamten, die damals vor Ort waren, sehr zurückhaltend von einem „wenig dramatischen Geschehen“ und einem „Routineeinsatz“ gesprochen. Die Verletzungen des älteren Mannes seien nicht fotografisch festgehalten worden. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung habe offenbar auch nicht bestanden, so der Vorsitzende Richter. Die beiden Frauen, die vergeblich versucht hatten, die Prügelei zu beenden, hätten ihre Angaben „relativiert“, hieß es, und vor Gericht „nicht mehr schwere Schläge geschildert“.
Die Kammer ging zu Gunsten des Angeklagten davon aus, dass er nach einem verbalen Streit vom späteren Opfer zuerst attackiert wurde. Der 36-Jährige habe mit einem Küchenmesser hantiert, der 26-Jährige mit einem Kopflöffel und dem vielfach erwähnten „Wischmoppgestänge“. Dass der Angeklagte Schläge austeilte, sei zunächst „durch Notwehr gerechtfertigt“ gewesen, so der Richter. Während der sich entwickelnden wechselseitigen Auseinandersetzung habe sich die Situation jedoch geändert: „Eine Notwehrlage bestand nicht mehr“.
Tötungsabsicht nicht nachweisbar
Dass die Schläge geeignet waren, das Leben des Opfers zu gefährden, habe man nicht mit der für eine entsprechende Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen können. „Und ein Tötungsvorsatz kann noch weniger nachgewiesen werden“. Zu dieser Ansicht war auch längst die Staatsanwaltschaft gelangt. Dessen Vertreter hatte schließlich eine Bewährungsstrafe von neun Monaten, allerdings wegen gefährlicher Körperverletzung, und die Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Der Verteidiger stellte eine Strafe, wegen eines minderschweren Falles, ins Ermessen des Gerichts und hielt auch eine Geldstrafe für ausreichend.
Eine solche sei zwar nicht gänzlich abwegig, befand die Kammer, verwies aber auf einen Strafbefehl, den der Angeklagte zuvor wegen Bedrohung und Sachbeschädigung erhalten habe. Nun sei eine Freiheitsstrafe angebracht. Das Gericht folgte dem psychiatrischen Sachverständigen, wonach der 26-Jährige zur Tatzeit aufgrund möglicherweise Gewalterfahrungen in seinem Heimatland und einer posttraumatischen Belastungsstörung vermindert schuldfähig gewesen sein könnte.
Der Haftbefehl wurde aufgehoben. Eine Warnung bekam der junge Mann noch vorsorglich mit auf den Weg in die Freiheit: Sollte er untertauchen oder eine neue Straftat begehen, müsse er unweigerlich mit dem Widerruf der Bewährung rechnen.