Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Domgymnasium Der Weg in den totalen Wahnsinn

Mit Georg Büchners Stück "Woyzeck" meldet sich die Kultur am Domgymnasium zurück. Geprobt wurde zum Teil digital.
16.06.2021, 16:45 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Susanne Ehrlich

Eine moderne und stimmige Kurzver­sion des Dramas "Woyzeck" von Georg Büchner war der Auftakt zum kulturel­len Schulleben am Domgymnasium. Unter der Regie ihrer Pädagogen Chris­tian Bode und Vanessa Galli hatten die acht jungen Darsteller der Theater-AG den anspruchsvollen Stoff in unsere Zeit transponiert. Indem sie den Figuren neue Gesichter gaben, machten sie umso deutlicher, wie die menschliche Not und Desorientierung, die Büchner zeigen wollte, allem gesellschaftlichen Wandel trotzt.

"Die Kultur ist zurück am Domgymna­sium", freute sich Direktorin Dorothea Blume, dass es trotz aller Widrigkeiten gelungen war, ein Theaterstück auf die Bühne zu brin­gen – mit echter Interaktion der Schau­spieler und vor Publikum. "Vor acht Wochen habe ich noch gesagt: Das wird nie klappen." Nun sei sie glücklich, "dass wir wieder den ersten Pflock ein­geschlagen haben".

Von der Ungewissheit, ob es überhaupt eine Aufführung geben würde, ließen sich die acht Darsteller und das Musik­team sowie die vielen Mitwirkenden an Licht, Ton, Technik, Kostümen und Ausstattung nicht beirren – und das, ob­wohl die Produktion des Vorjahres, das Stück "Hexenjagd" von Arthur Miller, Pandemie-bedingt nicht zur Aufführung gekommen war. Unter Einhaltung aller Hygieneregeln, mithilfe von digitalen Proben und über weite Strecken unter Verzicht auf elementarste Grundlagen des szenischen Spiels brachte die Thea­ter-AG eine Inszenierung zustande, der man die Schwierigkeiten ihrer Entste­hung überhaupt nicht anmerken konnte. Jedes Detail wirkte, als müsse es genau so sein; die Vereinzelung, die die Schau­spieler schmerzlich spüren ließen, unter­strich die Botschaft Büchners besonders eindringlich.

Nils Ewert erwies sich in der Titelrolle als kompetenter, mutiger Schauspieler, dessen langjährige Erfahrung mit dem Theaterspiel unverkennbar war. Körper­lich und seelisch angeschlagen, ja fast zerstört durch den zynischen Menschen­versuch, den Doktor Cornelius van de Bliksem (Lukas Gremm) an ihm durch­führte, zeigte er eine ganze Reihe von Zeichen des nahenden Zusammenbruchs. All diese Symptome wie Grimassieren und Augenzwinkern, ständiges Kratzen an Händen und Armen, hängende Schul­tern, Zucken der Gliedmaßen und vieles mehr, hielt er so konsequent durch, dass sein Elend für die Zuschauer kaum zu ertragen war. Man wollte auf die Bühne springen, ihn in den Arm nehmen und dem Einfluss des verbrecherischen Arz­tes und seiner ebenfalls unerträglich zy­nischen und bösartigen Vorgesetzten Sandra Schlapp-Fit, die die Figur des Hauptmanns ersetzte, entziehen. Ya­nina Heitmann spielte die Personalchefin mit derselben subtilen Machtdemonstra­tion, demselben Mangel an Empathie und derselben Oberflächlichkeit, wie sie den Zuschauer auch in der Originalver­sion verstört.  

Lukas Gremm gestaltete seine Rolle als blind auf das Ziel fokussierter Yuppie-Wissen­schaft­ler, der seine Patienten auf Pulsschlag und chemische Zusam­men­setzung des Urins reduziert, so überzeugend, dass den Zuschauern bange werden konnte.

Mit Anna-Katharina Kropp stand als Marie eine sehr erfahrene Darstellerin auf der Bühne, die, ebenso wie Nils Ewert, Yanina Heitmann und Marlin Mackensen, mit "Woyzeck" ihre Ab­schiedsvorstellung gab – alle vier stehen derzeit mitten im Abitur. Ehrlich, un­kompliziert und voller Lebenshunger verkörperte die Marie eine ganz normale junge Frau, die nichts Böses will und trotzdem verletzt, und die in Spielregeln gezwungen wurde, die sie nicht ein­halten kann.

Nicht als Tambourmajor, sondern als Marketing-Chef spielte Ju­lius von Cappendorff  (Marlin Macken­sen) mit Maries Gefühlen und ihrer Integrität. Unbeteiligter und passiver als im Original, war Andres (Rebecca Lin­denthal) zwar Woyzecks Zuflucht, aber keinesfalls seine Stütze – hilflos auch er, hatte er als Trost nur seinen Schnaps an­zubieten. Auch wenn ihre Nebenrollen nur klein waren, begeisterte FSJ-lerin Elisabeth Schneider, vor allem in ihrer bezaubernden Gesangseinlage vom ein­samen Kind. Ihre Kollegin B'Nina Ait-Kaci spielte dazu die Gitarre und stand auch als Freundin Margret mit auf der Bühne.

Bedrückend und intensiv war das "akus­tische Bühnenbild" in Form von Sprach­collagen-Schleifen, in denen sich zwi­schen den einzelnen Szenen das zuvor Gesagte in ständigen Wiederholungen in den Kopf bohrte – begleitet von einem permanenten hämmernden Pulsschlag. Und sogar echte Bühnenmusik mit Querflöte, Cello und Posaune erklang von der Empore.

Das begeisterte Publikum sparte nicht mit Szenen-Applaus, ging gebannt mit dem tragischen Helden den Weg in den totalen Wahnsinn und spendete am Schluss mit Jubel gemischten lang an­haltenden Beifall für die rundum gelun­gene Vorstellung, die am Freitag, 18. Juni, ab 20 Uhr zum letzten Mal über die Bühne geht.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)