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Theater-Abonnement Ästhetisches Augenvarieté

Der Spatz von Paris und der blaue Engel - eine Geschichte, die genügend Stoff für einen Theaterabend bietet. Davon konnte sich jetzt auch das Verdener Publikum überzeugen.
13.10.2021, 16:45 Uhr
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Von Susanne Ehrlich

Mit dem Stück "Spatz und Engel" von Thomas Kahry ist dem Schauspieler und Regisseur Daniel Große Boymann eine überzeugende Kombination von span­nungsgeladener szenischer Doppel­bio­grafie und hochkarätiger Musik-Revue gelungen, in der dramatische, komödi­antische und philosophisch ernste Ele­mente meisterhaft ausbalanciert sind.

Mit stark reduzierter Zuschauerzahl konnte die Aufführung, die eigentlich bereits für die vergangene Saison des Verdener Abonnement-Theaters geplant war, nun endlich stattfinden. Seit der Premiere des Stücks um die bei­den so verschiedenen Künstlerinnen Marlene Dietrich und Edith Piaf im März 2020 muss das Tourneetheater Thespiskarren unter Corona-Bedingun­gen spielen. Doch das konnte man weder den bis zum Anschlag engagierten Dar­stellern auf der Bühne noch dem be­geisterten Publikum anmerken, das in seinen Beifallsbekun­dungen mühelos ebenso laut wurde wie eine ganz volle Halle.

Susanne Rader als kühl-selbstbewusste Marlene und Heleen Joor als raubeinig-exzessiver Spatz von Paris brachten die Gegensätzlichkeit der beiden Frauen präzise auf den Punkt.

Erotische Avancen

Nach einem kurzen Prolog, der eine der letzten Begegnungen der längst vonein­ander entfremdeten Diven im Jahr 1960 skizziert, befindet man sich in der Kul­turmetropole New York im Jahr 1947. Nach vielen erfolgreichen Filmen und mit ihrem Image als konsequente Gegne­rin des Nazi-Regimes wird Marlene dort als geheimnisvolle Kultfigur gefeiert. Die 14 Jahre jüngere Edith Piaf, in Europa umjubelt, hat allerdings gerade einen vernichtenden Flop im New Yor­ker Playhaus hinter sich. Marlene Diet­rich trifft die Weinende in der Künst­ler­toilette, richtet sie auf, nimmt sie mit in das Luxusapparte­ment ihres Hotels und macht ihr sowohl freund­schaftliche als auch erotische Avancen, die die kleine Pariserin, die doch eigentlich mit allen Wassern gewa­schen sein müsste, zutiefst verwirren. 

Nun erlebt man mit viel Tempo die ra­santen Aufs und Abs in Piafs Leben, die, verglichen mit dem Gleichmut und der kontrollierten Disziplin der Dietrich umso mehr einer Achterbahnfahrt glei­chen.

Sehr berührend ist die innige Liebe der Piaf zum Boxweltmeister Marcel Cerdan (wie alle anderen Männerrollen des Stücks verkörpert von Steffen Wilhelm); ein halbpantomimisch dargestellter Jahr­markt-Bummel symbolisiert diese Bezie­hung, die nur aus Höhepunkten zu beste­hen scheint, bis Cerdan nach zwei Jahren durch einen Flugzeugabsturz aus dem Leben gerissen wird. Zwischen Hotel, Bühne, Rummelplatz und Krankenhaus, in dem sich die stets von beiden Seiten brennende Piaf mehrmals wiederfindet, ist Arzu Ernen ein Faktotum mit vielen Gesichtern und Stimmen, mal nüchtern-professionell als Krankenschwester oder Garderobiere, mal exaltiert als Piafs Komponistin Marguerite Monnot, mal schrill als Dame von Rummel oder über­kandidelte Sängerkollegin. 

Musikalische Kanonenschläge

Noch von mehreren weiteren Liebesaffä­ren und Ehen der Piaf wird berichtet; über das Liebesleben der Dietrich hinge­gen erfährt man nichts – außer diesem: "Das Körperliche wird doch über­schätzt", erklärt sie bei ihrer ersten Be­gegnung mit Edith. Ganz unübersehbar buchstabieren die beiden Frauen ihre Zuneigung sehr unterschiedlich. Für die Piaf ist Marlene Vertraute, mütterliche Freundin, Trösterin in allen Miseren. Für die Dietrich ist der Spatz mit dem gro­ßen Herzen und der großen Stimme of­fenbar eine große Liebe, die sie nur unter kummervoller Entsagung mit den Män­nern teilt.

Bestechend schön sind die vielen wech­selnden Frauenkostüme, die eine Art höchst ästhetisches Augenvarieté liefern und in den schlichten Bühnenbildern ei­nen idealen Rahmen finden. Die musi­kalische Gestaltung ist ebenfalls über­zeugend. Cordula Hacke am Flügel und Vassily Dück am Akkordeon verschmel­zen mit dem Geschehen zu einem akusti­schen Bühnenbild, aus dem sie immer wieder mit improvisiert wirkender solis­tischer Brillanz heraustreten. 

Schön sind die Duette der beiden Sänge­rinnen mit sehr persönlichen Tanzcho­reografien; ganz hübsch, aber ziemlich nullachtfuffzehn sind die amerikani­schen Songs der Dietrich; etwas halb­herzig und mit viel zu mechanischer Metrik verschenkt der Kultsong "Sag mir, wo die Blumen sind" seine Chance. Dagegen sind die Songs der Piaf beziehungsweise der unvergleichlichen Heleen Joor wie musikalische Kanonenschläge. Ob "Mi­lord" oder "Padam padam", ob "Hymne à l'amour", "La vie en rose" oder das nach dem Tod Cerdans mit bewegender Tragik interpretierte "Mon Dieu", jedes Chanson ein Höhepunkt für sich, stimmgewaltig und intensiv, nach dessen Verklingen das Publikum nie mit ju­belndem Beifall sparte.

Gesanglicher Vollrausch

Auf Piafs größ­ten Song "Je ne regrette rien" musste das Verdener Publikum bis zum Schluss warten, und dann wurde er zum gesanglichen Voll­rausch mit Gänsehaut und jenem schö­nen Schauer, der über die Wirbelsäule jagt. Davon konnte das Publikum über­haupt nicht genug bekommen und erjubelte sich einem "Theaterabend mit Zugabe".     

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