Mit dem Stück "Spatz und Engel" von Thomas Kahry ist dem Schauspieler und Regisseur Daniel Große Boymann eine überzeugende Kombination von spannungsgeladener szenischer Doppelbiografie und hochkarätiger Musik-Revue gelungen, in der dramatische, komödiantische und philosophisch ernste Elemente meisterhaft ausbalanciert sind.
Mit stark reduzierter Zuschauerzahl konnte die Aufführung, die eigentlich bereits für die vergangene Saison des Verdener Abonnement-Theaters geplant war, nun endlich stattfinden. Seit der Premiere des Stücks um die beiden so verschiedenen Künstlerinnen Marlene Dietrich und Edith Piaf im März 2020 muss das Tourneetheater Thespiskarren unter Corona-Bedingungen spielen. Doch das konnte man weder den bis zum Anschlag engagierten Darstellern auf der Bühne noch dem begeisterten Publikum anmerken, das in seinen Beifallsbekundungen mühelos ebenso laut wurde wie eine ganz volle Halle.
Susanne Rader als kühl-selbstbewusste Marlene und Heleen Joor als raubeinig-exzessiver Spatz von Paris brachten die Gegensätzlichkeit der beiden Frauen präzise auf den Punkt.
Erotische Avancen
Nach einem kurzen Prolog, der eine der letzten Begegnungen der längst voneinander entfremdeten Diven im Jahr 1960 skizziert, befindet man sich in der Kulturmetropole New York im Jahr 1947. Nach vielen erfolgreichen Filmen und mit ihrem Image als konsequente Gegnerin des Nazi-Regimes wird Marlene dort als geheimnisvolle Kultfigur gefeiert. Die 14 Jahre jüngere Edith Piaf, in Europa umjubelt, hat allerdings gerade einen vernichtenden Flop im New Yorker Playhaus hinter sich. Marlene Dietrich trifft die Weinende in der Künstlertoilette, richtet sie auf, nimmt sie mit in das Luxusappartement ihres Hotels und macht ihr sowohl freundschaftliche als auch erotische Avancen, die die kleine Pariserin, die doch eigentlich mit allen Wassern gewaschen sein müsste, zutiefst verwirren.
Nun erlebt man mit viel Tempo die rasanten Aufs und Abs in Piafs Leben, die, verglichen mit dem Gleichmut und der kontrollierten Disziplin der Dietrich umso mehr einer Achterbahnfahrt gleichen.
Sehr berührend ist die innige Liebe der Piaf zum Boxweltmeister Marcel Cerdan (wie alle anderen Männerrollen des Stücks verkörpert von Steffen Wilhelm); ein halbpantomimisch dargestellter Jahrmarkt-Bummel symbolisiert diese Beziehung, die nur aus Höhepunkten zu bestehen scheint, bis Cerdan nach zwei Jahren durch einen Flugzeugabsturz aus dem Leben gerissen wird. Zwischen Hotel, Bühne, Rummelplatz und Krankenhaus, in dem sich die stets von beiden Seiten brennende Piaf mehrmals wiederfindet, ist Arzu Ernen ein Faktotum mit vielen Gesichtern und Stimmen, mal nüchtern-professionell als Krankenschwester oder Garderobiere, mal exaltiert als Piafs Komponistin Marguerite Monnot, mal schrill als Dame von Rummel oder überkandidelte Sängerkollegin.
Musikalische Kanonenschläge
Noch von mehreren weiteren Liebesaffären und Ehen der Piaf wird berichtet; über das Liebesleben der Dietrich hingegen erfährt man nichts – außer diesem: "Das Körperliche wird doch überschätzt", erklärt sie bei ihrer ersten Begegnung mit Edith. Ganz unübersehbar buchstabieren die beiden Frauen ihre Zuneigung sehr unterschiedlich. Für die Piaf ist Marlene Vertraute, mütterliche Freundin, Trösterin in allen Miseren. Für die Dietrich ist der Spatz mit dem großen Herzen und der großen Stimme offenbar eine große Liebe, die sie nur unter kummervoller Entsagung mit den Männern teilt.
Bestechend schön sind die vielen wechselnden Frauenkostüme, die eine Art höchst ästhetisches Augenvarieté liefern und in den schlichten Bühnenbildern einen idealen Rahmen finden. Die musikalische Gestaltung ist ebenfalls überzeugend. Cordula Hacke am Flügel und Vassily Dück am Akkordeon verschmelzen mit dem Geschehen zu einem akustischen Bühnenbild, aus dem sie immer wieder mit improvisiert wirkender solistischer Brillanz heraustreten.
Schön sind die Duette der beiden Sängerinnen mit sehr persönlichen Tanzchoreografien; ganz hübsch, aber ziemlich nullachtfuffzehn sind die amerikanischen Songs der Dietrich; etwas halbherzig und mit viel zu mechanischer Metrik verschenkt der Kultsong "Sag mir, wo die Blumen sind" seine Chance. Dagegen sind die Songs der Piaf beziehungsweise der unvergleichlichen Heleen Joor wie musikalische Kanonenschläge. Ob "Milord" oder "Padam padam", ob "Hymne à l'amour", "La vie en rose" oder das nach dem Tod Cerdans mit bewegender Tragik interpretierte "Mon Dieu", jedes Chanson ein Höhepunkt für sich, stimmgewaltig und intensiv, nach dessen Verklingen das Publikum nie mit jubelndem Beifall sparte.
Gesanglicher Vollrausch
Auf Piafs größten Song "Je ne regrette rien" musste das Verdener Publikum bis zum Schluss warten, und dann wurde er zum gesanglichen Vollrausch mit Gänsehaut und jenem schönen Schauer, der über die Wirbelsäule jagt. Davon konnte das Publikum überhaupt nicht genug bekommen und erjubelte sich einem "Theaterabend mit Zugabe".