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Medizinische Versorgung Kliniken im Kreis Verden schlagen Alarm

Krankenhäuser in Achim und Verden sehen Leiharbeit zunehmend kritisch. Geschäftsführerin Marianne Baehr sieht gar "ein sehr großes Problem auf das Gesundheitswesen zurollen".
23.08.2022, 18:22 Uhr
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Kliniken im Kreis Verden schlagen Alarm
Von Felix Gutschmidt
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Der Fachkräftemangel kommt die Kliniken in Achim und Verden teuer zu stehen. Marianne Baehr, Geschäftsführerin der Aller-Weser-Klinik (AWK), berichtet, dass Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen abgeworben werden. Die bieten ihr Personal dann wiederum zu hohen Kosten den Krankenhäusern an. Darunter seien auch Beschäftigte, die in der AWK gut ausgebildet worden und denen Zusatzqualifikationen ermöglicht worden seien, sagt Baehr. "Und dann werden diese Mitarbeitenden uns von einer Personalagentur angeboten für Einsätze."

Diese Entwicklung macht sich nach Angaben von Baehr nicht nur bei den Personalkosten bemerkbar, sondern auch im Betriebsklima. Sie spricht von "Neid, Missgunst, Frust bis hin zu weniger Engagement mancher eigener Mitarbeiter". Denn die bei Zeitarbeitsfirmen angestellten Kollegen verdienen mehr Geld. Und sie haben die besseren Dienstzeiten. Denn laut Klinikleitung pickten sich die Leiharbeiter die besten Schichten raus, während die Kernbelegschaft für weniger Geld unliebsame Zeiten übernehmen müsse. Letzteres sei insbesondere in der Pflege zu beobachten. Die Klinik hat keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen. Warum? "Weil die Not in der Pflege so groß ist, alternativ kommt eben keiner", sagt Baehr.

Wie hoch ist denn der Teil der Leiharbeit?

In den Krankenhäusern in Achim und Verden hätten derzeit bis zu 15 Beschäftigte aus der Pflege und dem Funktionsdienst die Zeitarbeit einer Anstellung bei der AWK vorgezogen, sagt Geschäftsführerin Baehr. Bei den Ärzten seien es zwei bis fünf. Berichten, wonach jede zehnte Pflegekraft in den Häusern in Achim und Verden, insgesamt rund hundert an der Zahl, der Kategorie Leiharbeit angehörten, widerspricht sie. So oder so: Es sind in ihren Augen zu viele. "Gesamtgesellschaftlich sehe ich – sieht die Krankenhausleitung – ein sehr großes Problem auf das Gesundheitswesen zurollen."

Was sind die Folgen?

Baehr sieht die Qualität der Versorgung gefährdet. Langfristig könnte für Nachtdienste und Wochenenden das Personal fehlen. Das bekommen letztlich die Patienten zu spüren, genau wie "fehlende Teamintegration, Verantwortungsverweigerung, keine Zeit zur richtigen Einarbeitung, weniger Strukturwissen". Bei den Ärzten fehle bei kurzen Einsätzen die Zeit für die umfängliche Einarbeitung, und dadurch müssten viele Aufgaben von anderen Bereichen kompensiert werden. Das wiederum belastet die Stammbelegschaft zusätzlich.

Gibt es dieses Phänomen nur in Krankenhäusern?

Nein, auch in der Altenpflege ist die Entwicklung spürbar. "Da sitzen wir alle im selben Boot", sagt Daniela Suhr, Geschäftsführerin der Seniorenresidenz Am Paulsberg in Achim. Auch bei ihr im Haus gibt es Fälle, in denen Mitarbeiter die Zeitarbeit einer Festanstellung im Betrieb vorgezogen haben. Mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Suhr hofft, dass sich das Problem mit dem neuen, ab September geltenden Tarifvertrag erledigt.

Heinrich Jäger, Geschäftsführer des Senioren-Pflegezentrums Badener Berg in Achim, hat nach eigenen Angaben bislang keine Leiharbeiter in seinem Haus im Einsatz. Er sieht die Zeitarbeit in der Pflege generell kritisch, weil den betreffenden Mitarbeitern die Einarbeitung fehle. Sie kennen weder die betrieblichen Abläufe noch die Bewohner.

Was tun die Kliniken, um die Beschäftigten an sich zu binden?

"Im Pflegedienst haben wir schon eine Menge getan", sagt Baehr. Weitere Angebote würden derzeit überlegt. Standard sei derzeit eine Bezahlung  nach Tarif, also 38,5 Wochenstunden bei einem jährlichen Verdienst von circa 52.000 Euro und bis zu 35 Tage Urlaub. Darüber hinaus bietet die AWK nach eigenen Angaben den Pflegekräften unter anderem Springerdienste, Flexi-Dienste, persönliche Arbeitszeitmodelle, Wunschdienstpläne, Einspringpauschalen, finanzierte Weiterbildungen, Job-Rad oder Fitnessprogramme.

Und was bieten die Zeitarbeitsfirmen?

Offenbar mehr. Die bundesweit aktive Personalvermittlungsagentur Lichtfeld zum Beispiel verspricht "übertarifliche Vergütung" und "flexibles Arbeiten", um Beruf und Privates unter einen Hut zu bringen – ein attraktives Angebot für das strapazierte Krankenhauspersonal. Und Sorge um die berufliche Zukunft müssen sich qualifizierte Pfleger und Ärzte angesichts des Personalmangels ohnehin keine machen.

Wie könnte eine Lösung des Problems aussehen?

Baehr sieht den Gesetzgeber in der Pflicht. Es gehe nicht darum, die Leiharbeit zu verbieten, sondern die "ausufernde Entlohnung bis hin zum eigenen Fahrzeug".

Aber ist die Entwicklung nicht einfach das Ergebnis von Angebot und Nachfrage?

Ja und nein. Sicher steigt der Wert von Arbeitskräften, wenn sie besonders gefragt sind. Andererseits verstärken Leiharbeitsfirmen den Mangel in den Betrieben aktiv, wenn sie Beschäftigte von Kliniken oder Senioreneinrichtungen abwerben. "Sie schaffen sich ihren eigenen Markt", meint Jäger.

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