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Domherrenhaus Psychogramm eines Massenmörders

Das Publikum stöhnt erschreckt auf und die Rolle verfolgt den Schauspieler bis in seine Träume: Das Stück "Rote Reihe 4" über Massenmörder Fritz Haarmann lässt in Verden niemanden kalt.
16.11.2023, 15:16 Uhr
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Von Susanne Ehrlich

Er lebte und mordete in Hannover. Vor genau hundert Jahren wurde sein Todesurteil vollstreckt, und jetzt ist er im Domherrenhaus für eine grausige Stunde wieder auferstanden: Die gerichtspsychologische Vernehmung des Friedrich "Fritz" Haarmann bietet dem Kirchlintler Schauspieler Bernd Maas im Zweipersonenstück "Rote Reihe 4" die ideale Steilvorlage für eine Persönlichkeitsstudie, in der er alle Register seines Könnens ziehen kann.

Mit der Verdener Inszenierung der Haarmann-Protokolle ging für Gabriele Müller, Theatermacherin und Mitarbeiterin im Domherrenhaus, ebenso wie für Bernd Maas ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Unterstützt wurde das Projekt von Gabriele Benner als Regieassistentin. Das von Götz Georges "Totmacher" aus dem Jahr 1995 inspirierte und von Joachim Müller in Szene gesetzte Stück ist eine Zusammenfassung von mehreren Tausend Seiten Vernehmungsprotokollen und lässt eine geballte Ladung von Unvorstellbarem in Schwindel erregender Folge am Zuschauer vorbeisausen: In der Wirklichkeit waren es ungezählte quälende Stunden, in denen der psychiatrische Gutachter Ernst Schultze, hier gespielt von Karl Korte, herauszufinden versuchte, ob in Haarmanns Fall eine psychiatrische Unterbringung oder aber die Todesstrafe angemessen sei.

Geistiger Stand eines Kindes

Karl Korte gestaltet seine Rolle trotz der unfassbaren Grausamkeiten, die er im Gespräch mit Haarmann anhören muss, mit großem Mitgefühl. Er muss begreifen, dass Haarmann, der als Mörder von mindestens 22 jungen Männern angeklagt ist, der seine Opfer angelockt und nach der Tat bestialisch zerstückelt hat, an sich selbst nichts Böses findet. Und er muss akzeptieren, dass der auf dem geistigen Stand eines Kindes kommunizierende Massenmörder keine Diagnose einer Unzurechnungsfähigkeit wünscht: "Wenn man einen tot macht, wird man auch wieder tot gemacht, und das ist auch richtig." 

Friedrich Haarmann ist zum Zeitpunkt seiner Verurteilung 46 Jahre alt. Grandios spielt Bernd Maas die vielfältigen emotionalen Nuancen des mörderischen Kindes im Männerkörper aus. Er lässt dessen ganze traurige Biografie wie ein schauerliches Feuerwerk von widerstreitenden Gefühlen aufbrechen. Er triumphiert und weint, er tobt und jammert, klagt wütend an oder erzählt mit größter Zärtlichkeit von den wenigen Menschen, an denen ihm je etwas gelegen hat. Großartig ist seine Mimik, die die Worte mit geradezu unheimlicher Authentizität unterstreicht: Wie wild er um sich blickt, wie tief traurig er schluchzt, wie grotesk teilnahmslos er wirkt, als er die Zerstückelung der Leichen beschreibt – das ist ganz großes Theater. "Was sollte ich denn machen? Die mussten ja weg", erzählt er beinahe beiläufig, und wie er seine Mordmethode schildert – er verbiss sich in erotischer Ekstase im Kehlkopf seiner Opfer – wirkt er bestürzend unschuldig: "Ich habe das doch nicht gewollt!" Und setzt hinzu: "Wenn ich einen Freund gehabt hätte, wäre das alles nicht passiert!"

Innerer Widerstreit

Sein innerer Widerstreit berührt tief: Das Motiv "Ich will nicht – ich muss" aus dem Filmklassiker "M", der ebenfalls zum Teil auf dem Fall Haarmanns basiert, wird so glaubwürdig, dass es kaum zu ertragen ist: Immer wieder fürchtet sich Fritz vor den Folgen seiner erotischen Abenteuer, schickt viele der schönen jungen Stricher und Herumtreiber geradezu aggressiv wieder weg, damit sie am Leben bleiben. Nach den Morden ist er erschöpft und traurig: "Tot sind sie nicht mehr schön!"

Schnell merkt man dem Gutachter die Erschöpfung an, und in seine Befragungen, die bis ins Innerste der Haarmann'schen Intimsphäre eindringen, mischt sich durchaus auch Aggression. Doch im Stück gelingt es ihm nicht, die entscheidende Antwort zu finden: Ist Haarmann ein skrupelloser Mörder oder ein verwirrter Psychopath, der keine Verantwortung für sein Handeln tragen kann? Und diese Frage wird gleichsam ans Publikum weitergegeben: Was ist das Böse? Wird es durch seine Folgen oder durch seine Absicht definiert? Wie könnte man jemals den Menschen, der des Menschen Wolf ist, vor sich selbst retten? 

Starker Tobak für das Publikum

Haarmann jedenfalls will nicht gerettet werden, sehnt sich in kindlichen Worten nach dem Himmel, wo seine Mutter ist und hat nur eine Befürchtung: "Wenn ich da oben bin, sind die da auch?" Aber sie könnten ihm ja gar nichts anhaben, stellt er dann fest: "Sie haben ja keinen Kopf mehr." Das bringt ihn zur nächsten Sorge: "Aber wenn ich tot bin, sollen sie mir meinen Kopf mitgeben!"

Für das Publikum war der gut einstündige Dialog starker Tobak. Immer wieder war erschrecktes Aufstöhnen im Saal zu vernehmen. Doch am Ende war man begeistert: "Ich bin sonst kein Theatergänger", so die Kirchlintlerin Nadja Hansen, "aber das fand ich wirklich großartig!" Für Bernd Maas selbst war es eine schwere Rolle: "Ich habe zweimal von ihm geträumt und bin im Traum vor ihm weggelaufen. Das kann man wohl nicht einfach so abschütteln."  

An diesem Freitag, 17. November, um 19 Uhr ist das Stück "Rote Reihe 4" zum letzten Mal im Domherrenhaus, Untere Straße 13 in Verden, zu sehen. 

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