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Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung Gegen die Wegwerf-Mentalität

Die niedersächsische Landesregierung hat einen Aktionsplan gegen die Verschwendung von Lebensmitteln vorgelegt. Tafel-Mitarbeiter aus der Region sehen ihn eher kritisch.
11.07.2021, 18:00 Uhr
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Von Imke Molkewehrum

Rein statistisch wirft jeder deutsche Verbraucher pro Jahr 75 Kilogramm Lebensmittel in den Müll. 12 bis 18 Millionen Tonnen mit einem geschätzten Gesamtwert von rund 20 Millionen Euro kommen dabei zusammen. Experten schätzen, dass die Hälfte der Lebensmittel noch essbar wäre. In Bremen-Nord und dem niedersächsischen Umland kümmern sich Organisationen wie die Bremer Tafel, die Nordbremer Lebensmittelhilfe und die Johanniter Unfall-Hilfe um die Umverteilung noch genießbarer Lebensmittel an Bedürftige. Der Bedarf ist groß. Umso dringlicher ist es, der Wegwerf-Mentalität entgegenzuwirken.

In Niedersachsen wollen die Fraktionen von CDU und SPD der Verschwendung entgegenwirken. Dabei geht es auch um die Relevanz des Mindesthaltbarkeitsdatums, das seit Dezember 1981 in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist. Hinterfragt werden sollen zudem haftungsrechtliche Hürden bei der Weitergabe von Lebensmitteln.

Die Lebensmittelausgabe "Radieschen" des Johanniter-Ortsverbands Stedingen versorgt seit mehr als 16 Jahren bedürftige Menschen in den niedersächsischen Gemeinden Berne, Elsfleth und Lemwerder mit gespendeten Nahrungsmitteln. Der Ortsbeauftragte Diether Lietdke sieht den Vorstoß der niedersächsischen Regierungskoalition eher kritisch. "Wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum wegfällt, kommt weniger bei den Tafeln an. Außerdem hat der Handel gar kein Interesse daran, die Ware in die Tonne zu werfen. Schließlich kostet die Abfuhr viel Geld."

Neue Gesetze erachtet der 72-Jährige daher nicht als zielführend. "Es gibt schon genug Verbote. Wichtiger wäre ein Umdenken der Verbraucher in Bezug auf das Mindesthaltbarkeitsdatum." In den Haushalten lande immer noch zu viel essbare Ware in den Tonnen, betont Liedke und fordert: "Die Leute müssen kapieren, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum nur eine Richtschnur für den Handel ist. Das Schnitzel ist nicht eine Sekunde nach Mitternacht schlecht. Ich selbst habe im Kühlschrank Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum seit einem Monat überschritten ist. Da ist aber nichts dran. Der Koch entscheidet: sehend, riechend, schmeckend und fühlend."

Erfreulich sei hingegen, dass inzwischen eigentlich alle Supermärkte und Discounter Verträge mit Lebensmitteltafeln über die Abgabe von Waren haben. Liedke: "Die Vereinbarungen sind zwar unterschiedlich, aber es gibt dann Lieferverpflichtungen seitens des Lebensmitteleinzelhandels. Wir haben also keine Probleme, genug Ware zu kriegen." Kritisch sieht der ehemalige Metallflugzeugbauer jedoch die Mentalität der Kunden, sich in den Läden nur makellose Ware auszusuchen. "Ein Apfel mit Falte geht hier nicht mehr über den Ladentisch." Seitens der Supermärkte kritisiert der Rentner die Regel, noch kurz vor Ladenschluss nahezu volle Brot-Regale zu präsentieren. "Das ist doch alles Wegwerfware."

Gleiches gelte – in diesem Fall zwangsläufig – auch für bereits zubereitete Gerichte in der Gastronomie. "Man muss unterscheiden zwischen Fertigprodukten und Speisen, die durchgehend gekühlt transportiert werden müssen", so der Experte. Das "Radieschen" habe zwar wegen Corona aus der Mensa der Jade-Hochschule in Elsfleth nicht verarbeitete Rohprodukte übernommen. Undenkbar sei es aber, das Essen aus deren Kochtöpfen weiterzugeben. "Das Lagern von bereits gekochtem Essen ist für uns schlichtweg unmöglich." 

Hannelore Vogel leitet die Ausgabestelle der Bremer Tafel in Burg. Hier ist zwar der Bremer Senat zuständig, aber die 75-Jährige begrüßt den Vorstoß der niedersächsischen Landesregierung, das Mindesthaltbarkeitsdatum zu hinterfragen. "Das wäre in jedem Fall sinnvoll, denn die Ware kann nach Ablauf noch Monate haltbar sein." Die Produzenten und Händler seien natürlich darauf bedacht, sich gegen mögliche Beschwerden abzusichern, die Datierung sei jedoch mehr als zweifelhaft, kritisiert Vogel. "Leider dürfen aber auch wir die Ware nach dem Ablauf nicht weitergeben. Aufmachen und dran riechen dürfen wir natürlich auch nicht." 

Für die Versorgung der Bedürftigen sei es zudem von Nachteil, "dass von Discountern und Supermärkten nicht mehr so viele Ware kommt, die kurz vor dem Ablaufdatum steht,  beispielsweise Joghurt oder Milch", erklärt die ehemalige Betriebswirtin. "Die Händler behalten die Ware jetzt selber so lange, bis sie abgelaufen ist und bieten sie den Kunden zum reduzierten Preis an. Das spürt die Tafel deutlich." 

Bedauerlich sei auch, das die Initiativen nur abgepackte Ware annehmen dürfen und daher Gastronomie und Landwirte nicht zu den Lieferanten der Bremer Tafel zählen. "So werden noch sehr viele Lebensmittel entsorgt, die noch hätten verteilt werden können", bedauert Hannelore Vogel. "Eine Verpflichtung zur Weitergabe würde uns theoretisch also tatsächlich helfen, weil hier mehr ankäme. "Aber man kann das sicher nicht lückenlos überprüfen. Viele Nahrungsmittel würden deshalb vermutlich trotzdem auf dem Müll landen." 

Auch bei der Bremer Tafel falle viel Müll an, vor allem Verpackungen und Kartons. "Da kommt ganz schön war zusammen. Es gibt Tafeln, die da von den Städten unterstützt werden. Die übernehmen beispielsweise die Müllgebühren", erklärt Hannelore Vogel und fügt hinzu: "Wir finanzieren uns aber ausschließlich über Spenden und zahlen davon auch die Müllgebühren." Bei der Unterstützung der ehrenamtlichen Lebensmittel-Initiativen gebe es durchaus noch Luft nach oben. Aktuell suche die Bremer Tafel beispielsweise einen Raum am ehemaligen Standort in Gröpelingen. "Da möchten wir gern einmal wöchentlich eine Ausgabestelle für Rentner und Menschen mit Behinderungen aufmachen. Bei Bedarf bringen wir jede Woche sogar den Kühlschrank mit." 

Zur Sache

Aktionsplan in Niedersachsen

SPD und CDU im niedersächsischen Landtag haben Ende Juni einen Aktionsplan gegen die Verschwendung von Lebensmitteln und zur Stärkung der Tafeln vorgelegt. Sie wollen die Ursachen der Verschwendung analysieren und bei Bedarf für Landwirtschaft, Produzenten, Handel, Gastronomie und private Haushalte konkrete Zielmarken zur Reduktion markieren. Zudem wollen die Politiker die Regelungen zum Mindesthaltbarkeitsdatum hinterfragen und die haftungsrechtlichen Hürden zur Weitergabe von Lebensmitteln abbauen. Angeregt wird auch, den Lebensmitteleinzelhandel via Abgabengesetz zur Weitergabe noch verwertbarer Lebensmitteln an gemeinnützige Initiativen zu verpflichten.

Bereits im Februar 2021 hat die Bundesregierung eine „Nationale Strategie zur Verringerung von Lebensmittelabfällen“ beschlossen. Damit sollen die entsorgten Lebensmittelmengen gemäß dem globalen Nachhaltigkeitsziel bis 2030 halbiert werden. Vorgesehen sind dabei allerdings keine verbindlichen Reduktionsziele, sondern Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sprich: freiwillige Maßnahmen.

Im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung fordern die Fraktionen von SPD und CDU in Niedersachsen nunmehr verbindliche Regelungen sowohl auf Bundes- als auch auf europäischer Ebene. Verringert werden soll dadurch nicht nur der Ausstoß von Treibhausgasen, sondern auch die Verschwendung von Energie, Wasser und Rohstoffen. Die hannoversche Koalitionsregierung verweist dabei auf Frankreich und Tschechien, die der Lebensmittelverschwendung bereits mit einem Verbot der Vernichtung verwertbarer Lebensmittel entgegenwirken.

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