Als das Schiff am 4. September 1880 den Hafen von Cadiz erreichte, hatte es eine lange Reise hinter sich. Von Hamburg nach Samoa und über Tonga ging es für die „Ingo“ zurück nach Europa. Auf seiner Fahrt hatte der Segler verschiedene Waren an Bord: Kohle für die Südsee und Kokosnüsse, die ein wichtiger Rohstoff der heimischen Margarine- und Seifenindustrie waren. Erschwert wurde der ohnehin lange Weg durch mehrere Stürme, die dem Schiff zusetzten. Als die „Ingo“ schließlich den spanischen Hafen erreichte, ließ der Kapitän notieren: „Schiff leck fünf Zoll Wasser per Stunde.“

Johann Nicolaus August Wurthmann, Sohn von Paul Friedrich August Wurthmann, und die Besatzung des Fischdampfers „Eva“ um 1903.
Exotische Länder, weite Reisen, abenteuerliche Erlebnisse – es sind Geschichten wie diese, die das Image der Seefahrt geprägt haben. Doch sie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben der Seeleute vergangener Jahrhunderte. Was es bedeutet hat, vor 150 Jahren zur See gefahren zu sein, das hat sich Heiko Herold genauer angeschaut. Der Historiker hat das Leben von Paul Friedrich August Wurthmann erforscht. Wurthmann war nicht nur der Kapitän, der die „Ingo“ durch die Stürme der Südsee steuerte – er war auch Herolds Ururgroßvater.

Heiko Herold hat eine wissenschaftliche Biografie über seinen Ururgroßvater geschrieben.
Auf die Idee, einen Teil der Familiengeschichte nachzuerzählen, kam Herold vor mehr als 20 Jahren. Nach dem Tod des Großvaters sprach seine Großmutter viel über ihren Vater und dessen Vater. „Sie hat immer betont, dass sie aus einer Seefahrer-Familie aus dem Raum Elsfleth stammt“, sagt Herold heute. Den damaligen Geschichtsstudenten ließen die Erzählungen nicht los – also begann er mit den Nachforschungen. Durch sein Studium, Auslandsaufenthalte, die Dissertation und erste Jobs konnte er das Projekt aber nicht so verfolgen, wie er es sich gewünscht hatte. Vor drei Jahren hatte er dann wieder mehr Zeit; Herold widmete sich dem Thema intensiver. „Ich wollte wissen, ob das alles stimmt. Als Historiker interessiert man sich einfach dafür.“ Von all seinen Vorfahren sei Wurthmann der spannendste gewesen. Was er bei seinen Recherchen herausgefunden hat, hat Herold nun als Buch veröffentlicht – als wissenschaftliche Biografie.
Herolds Ururgroßvater kam 1837 in Elsfleth auf die Welt. Die Jahre seiner Kindheit verliefen wohl unspektakulär, sein Vater hatte eine Werft. Gesichert ist, dass Wurthmann mit 16 Jahren als Schiffsjunge an Bord der Elsflether Schonergaliot „Elise“ anheuerte. Die erste Fahrt ging in die USA; in Baltimore entließ das Schiff 85 Auswanderer in die Neue Welt. Wurthmann hingegen blieb an Bord.

Der Fischdampfer „Herbert“ la?uft in den Geestemu?nder Fischereihafen ein.
Er machte viele solcher Touren, die ihn um die halbe Welt führten. Er kam nach New Orleans, kurz nachdem im Nordosten der USA eine Wirtschaftskrise begonnen hatte; er segelte ins chilenische Valparaiso, das Monate zuvor noch von spanischen Kriegsschiffen bombardiert worden war; er navigierte rund um das berüchtigte Kap Hoorn. Doch der Junge aus Elsfleth wollte nicht Matrose bleiben, er machte Karriere und besuchte die Navigationsschule in seiner Heimat. Damals war klar: Wer dieses Studium absolvierte, der wollte Kapitän auf einem Schiff in der außereuropäischen Fahrt werden, schreibt Herold in seinem Buch. 1868 führte Wurthmann zum ersten Mal ein Schiff.
„Wurthmann hatte den klassischen Lebenslauf junger Männer, die im 19. Jahrhundert in die Seefahrt gegangen sind“, sagt Herold. Für seine Recherche war er in Archiven in der Region, aber auch in Berlin und Washington. Neben der Tatsache, dass es sich um seine eigene Familie handelt, fasziniert Herold noch ein weiterer Aspekt: Der Werdegang eines Seefahrers aus Elsfleth sei Regionalgeschichte im besten Sinne, gleichzeitig aber auch globale Geschichte. Wurthmann war Akteur des internationalen Warenhandels, Teil eines Systems, das ganze Nationen geprägt hat.

Mathilde Wurthmann (rechts), Ehefrau von Paul Friedrich August Wurthmann, mit Familienangehörigen.
Der Elsflether blieb aber nicht für immer Kapitän. 1881 – Wurthmann war 44 Jahre alt – wechselte er an Land, kehrte zurück zu Frau und Kindern. Zur Ruhe setze er sich aber nicht.
Wurthmann zog nach Bremerhaven und wurde Betriebsdirektor einer großen Schleppschifffahrtsgesellschaft auf der Weser. Als solcher baute er die Geschäfte aus und ließ etwa zwei Schiffe zu Fischdampfern umbauen. Damals war die Dampfhochseefischerei ein noch junger, skeptisch beäugter Wirtschaftszweig – wenig später sorgte sie jedoch für einen Wirtschaftsboom im Unterweserraum.
Ende des 19. Jahrhunderts widmete sich Wurthmann ganz der Dampfhochseefischerei und gründete seine eigene Reederei mit dem Namen P. Aug. Wurthmann. Das erste Schiff, die „Paul“, lief im Juli 1894 vom Stapel – weitere sollten folgen. „Für seine Zeit ist er relativ reich geworden“, sagt Herold. Vielleicht auch, weil Wurthmann innovativ gewesen sei. „Er war kein Nostalgiker, der dem Zeitalter der Segelschiffe nachgetrauert hat. Viele Segelschiffkapitäne haben den Sprung ins neue Zeitalter nicht mehr geschafft.“ Wurthmann hingegen schon. Er wurde zum Pionier der Dampfhochseefischerei.

So sahen die Flagge und die Schornsteinmarke der Fischdampfer-Reederei Wurthmann aus.
Am 30. Dezember 1898 starb Wurthmann. Noch einige Jahre wurde die Reederei Wurthmann von der Familie fortgeführt, bis ihre Schiffe in der Norddeutschen Hochseefischerei AG aufgingen.
Für Herold war der Blick in die Vergangenheit auch ein Blick auf die eigene Geschichte. „Obwohl ich im Rheinland groß geworden bin, haben wir in meiner Familie immer sehr gerne und sehr viel Fisch gegessen.“ Diese Affinität, so Herold, liege sicher auch in der Familienhistorie begründet.