Eigentlich, sagt Irene Löwen, habe sie gedacht, dass sie viel mehr mit ihren Gästen zu tun haben würde. Obwohl: Gäste ist der falsche Begriff, denn Hanna Kharchenko und ihre Töchter Alisa und Arina sind mehr Mitbewohner als Gäste. Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben Irene Löwen, ihr Mann Stefan und Sohn Louis die drei vor dem Krieg in der Ukraine Geflüchteten aufgenommen. Löwens folgten damit einem Aufruf der Lemwerderaner Gemeindeverwaltung.
"Wir verstehen uns als Starthilfe", sagt Irene Löwen, die in Kasachstan zur Welt gekommen ist, russische Verwandtschaft hat und sich deshalb ein wenig in russischer Sprache verständigen kann. Obwohl Hanna, Alisa und Arina Kharchenko aus der Ukraine kommen, sprechen sie russisch. In ihrer Heimatstadt Kramatorsk, im Osten des Landes, sei das üblich, erzählt Hanna Kharchenko. "Nur in der Schule sprechen die Kinder ukrainisch."
Die Gespräche zwischen den beiden Frauen klingen fließend. Wenn Irene Löwen ein Begriff fehlt, umschreibt sie ihn. Da wird der Stall zum Haus des Pferdes. Oder die Lemwerderanerin greift zum Smartphone. "Wir haben auf fast jedem Gerät einen Russisch-Übersetzer", sagt Ehemann Stefan. So können auch er und der zehnjährige Louis mit Hanna, Alisa und Arina Kharchenko kommunizieren.
Zusammenleben wie in einer WG
Die Mutter und ihre beiden sieben und 16 Jahre alten Töchter haben zwei Zimmer im Obergeschoss des Einfamilienhauses im Ortskern bezogen. Auch ein eigenes Badezimmer steht ihnen zur Verfügung. Nur Küche, Wohnzimmer und Garten werden geteilt. "Das ist WG-artig", sagt Stefan Löwen. Doch seine Ehefrau widerspricht, denn eigentlich bekommen sie die drei Ukrainerinnen kaum zu Gesicht. "Es war für uns völlig in Ordnung, die Küche abzugeben. Aber das blieb aus. Wir haben damit gerechnet, dass sie viel mehr unten sind", sagt Irene Löwen. "Morgens sehen wir sie gar nicht. Und auch abends haben wir sie in der ersten Zeit zum Essen runtergeholt." Schnell merkten die Löwens, dass die drei Ukrainerinnen lieber für sich im Obergeschoss sein wollten.
Mittlerweile lassen Löwens die drei mehr in Ruhe. Sie verstehen, dass Hanna, Alisa und Arina Kharchenko zurzeit in einem anderen Universum leben. "Sie halten die Handys fest in der Hand. Das Herz und die Gedanken sind immer in der Ukraine", weiß Irene Löwen. Besonders hart hat es die 16-jährige Arina getroffen. Sie hat nicht nur ihren Vater Wladimir in der Ukraine zurückgelassen, sondern auch ihren Freund. Der junge Mann ist im Westen des Landes untergekommen.
Zur Hochzeit und ins Allwetterbad
Zumindest an den Wochenenden versuchen die Gastgeber ihre Mitbewohnerinnen zu gemeinsamen Aktivitäten zu animieren. Das kann der Grillabend im großen Garten, ein Ausflug ins Allwetterbad nach Osterholz-Scharmbeck oder der Besuch einer Hochzeit von Freunden sein. An diesem Sonnabend möchte Irene Löwen mit Hanna Kharchenko, ihrem Sohn und den beiden Mädchen zum Kinderfest auf den Rathausplatz.
Drei bis sechs Monate wollen sie den drei Ukrainerinnen Starthilfe geben, sagt Irene Löwen. Das hatte sie der Gemeindeverwaltung mitgeteilt. So lange hätten sie den erweiterten Haushalt auch gut finanziell stemmen können, hatten sich Irene und Stefan Löwen gedacht. Doch die finanzielle Belastung ist gering. "Hanna hat am ersten Tag schnell und unkompliziert einen Vorschuss von der Gemeinde bekommen", erinnert sich die Sachbearbeiterin. Die steigenden Strom-, Wasser- und Müllkosten werden übernommen. "Von uns bekommen sie eigentlich nur noch Seife, Geschirrspülmittel und Toilettenpapier", stellt Irene Löwen fest.
Die erste Hälfte der gemeinsamen Wohnungsnutzung ist um. Gastgeberin und Gast haben sich nach einer Wohnung umgesehen. Auch Möbel werden schon besorgt. "Wir sind im Moment wie Eichhörnchen und lagern viel ein", erzählt Irene Löwen lachend. Im August werden die drei Ukrainerinnen wohl in eine eigene Wohnung in die Eschhofsiedlung umziehen können. Nur das Jobcenter muss die neue Bleibe noch genehmigen. Apropos Jobcenter: Dessen Besuche sowie andere Behördengänge "sind für mich böhmische Dörfer", gesteht Irene Löwen.
Großes Interesse an einer Paten-Gruppe
Bei der Wohnungs- und Jobsuche für Hanna Kharchenko hofft die Lemwerderanerin auf das Projekt "Arbeit und Familie" (AuF) der Kreisvolkshochschule. Und wenn sie bei der Gemeinde einen Wunsch frei hätte, sagt Irene Löwen, dann würde sie sich ein Netzwerk wünschen, in dem sich die Lemwerderaner, die Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben oder unterstützen, austauschen können. Analog zur Gruppe der Paten, die Anfang 2016 die vielen Geflüchteten aus Syrien begleitet haben. "Ich hätte gerne jemanden, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat, um Rat gefragt, was wir machen können, wenn sie sich in ihr Zimmer verkriechen."
Eine derartige Gruppe wünschen sich auch Carina und Norman Stamer. Die beiden Barschlüter hatten am 11. März das junge Ehepaar Yuliia Prokhnytska und Wahid Sailouhi in ihrem Büro aufgenommen. Die beiden Pharmaziestudenten aus dem ostukrainischen Charkiw sind mittlerweile in eine eigene Wohnung umgezogen. Der Kontakt besteht aber weiter. "Wir treffen uns alle eineinhalb Wochen auf ein Eis oder zum Kaffeetrinken", erzählt Carina Stamer. Ehemann Norman, Vorstandsmitglied, Spartenleiter Fußball und Jugendtrainer im SV Lemwerder, hatte Wahid Sailouhi bereits in der ersten Woche mit zum Training der Herren genommen. Das besucht der gebürtige Marokkaner noch immer gerne dreimal pro Woche.
"Es fühlt sich an, als seien sie unsere Familie", sagt Yuliia Prokhnytska am Rande einer Familienfeier. Stamers hatten das Paar jüngst zur gemeinsamen Geburtstagsfeier von Mutter Carina und Tochter Elisa eingeladen.
Carina Stamer war es, die das Projekt internationale Wohngemeinschaft auf Zeit vorangetrieben hat. "Ich hatte Bedenken, dass wir uns in unserem Leben und Rhythmus einschränken müssen oder dass etwas im Haus kaputt geht", gesteht Norman Stamer. Für die Barschlüter hat sich herausgestellt, dass die Befürchtungen unbegründet waren.