Herr Grosch, Sie sind in der 75-jährigen Geschichte des Niedersächsischen Landtags der erste Abgeordnete im Rollstuhl. Ist diese Premiere auch ein Grund zum Feiern?
Constantin Grosch: Ja, für eine Demokratie ist es immer gut, wenn die Bandbreite der Menschen, die in den Parlamenten auch in Person repräsentiert werden, zunimmt. Viele Menschen machen wegen ihrer Behinderung Diskriminierungserfahrungen, bekommen im Kampf mit den Behörden immer wieder Schwierigkeiten. Für diese Menschen ist es gutes Signal, wenn sie sich jetzt von mir als Person mit einer deutlich sichtbaren Behinderung repräsentiert fühlen können, wenn sie in mir einen Ansprechpartner sehen, der ihre Probleme im Alltag nachvollziehen kann.
Erklären Sie uns bitte Ihre Krankheit und die dadurch bewirkten Einschränkungen.
Ich habe eine Muskeldystrophie, im Volksmund würde man Muskelschwund sagen. Die bewirkt, dass mein Körper nicht in der Lage ist, den Zustand meiner Muskeln langfristig aufrechtzuerhalten, sie zu reparieren. Das ist gewöhnlicher Verschleiß, der vom Körper nicht aufgehalten werden kann. Dadurch lässt die Kraft und Beweglichkeit nach. Das führt dazu, dass ich meinen Körper nicht so einsetzen kann wie jemand anderes. Ich habe nicht mehr genug Kraft in den Beinen, um zu laufen, nicht genug Kraft in den Armen, um diese zu heben. Glücklicherweise sind meine inneren Organe, insbesondere das Herz, davon nicht direkt betroffen.
Sie sind also im täglichen Leben auf fremde Hilfe angewiesen. Was bedeutet das für Ihre künftige Arbeit im Parlament?
Für mich persönlich ändert sich nicht viel, weil ich dieses Leben so ja schon kenne. Aber ja, ich brauche bei allen Tätigkeiten des Alltags Unterstützung, ob ich jetzt einen Humpen Bier heben möchte oder ob es eben das Öffnen meiner Abgeordnetenpost ist. Beides sind Bewegungen der Hände, die ich nicht ausführen kann, für die ich also Hilfe brauche. Ich lebe immer schon mit einer so genannten persönlichen Assistenz, sprich Personen, die die ganz normalen pflegerischen Tätigkeiten übernehmen, die mich bei meiner Haushaltsführung unterstützen, die meine Post öffnen, die den Aufzugknopf im Bahnhof drücken. Und diese Assistenten werden mich auch im Landtag bei allen Tätigkeiten begleiten.
Sind sie auch bundesweit der erste Parlamentarier, der auf solche Unterstützung angewiesen ist?
Zumindest, was die dauerhafte Unterstützung angeht. Glücklicherweise gibt es schon mehr Menschen mit Behinderung in den Landesparlamenten und im Bundestag. Diese sind meines Wissens allerdings in der Lage, ihren Alltag weitgehend selbst zu bestreiten.
Die Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtags sieht bei Schlussabstimmungen das Aufstehen vor. Wie werden Sie Ihr Ja oder Nein bekunden?
Das ist eine spannende Frage. Ich befinde mich darüber in Konsultationen mit der Landtagsverwaltung und werde das auch mit dem künftigen Präsidium absprechen müssen. Eine Überlegung ist, dies über eine für alle sichtbare kleine Ampelanlage mit entsprechenden Knöpfen an meinem Sitzplatz zu regeln: grün für Ja, rot für Nein, gelb für Enthaltung. In der Schule und an der Uni habe ich früher eine Handfigur an einer Stange dafür genutzt, aber das ist vielleicht mit der Würde des Hohen Hauses nicht ganz vereinbar. Denkbar ist auch ein Touch-Bildschirm an meinem Platz mit Verbindung zur Sitzungsleitung. Wir werden in der Geschäftsordnung jedenfalls einiges ändern müssen.
Was noch?
Zum Beispiel, wie ich an einem Hammelsprung teilnehmen kann. Dazu zählt auch, dass ich ein eigenes Mikrofon an meinem Tisch bekomme. Bei Zwischenfragen oder Interventionen ist ein schneller Sprint zum Saalmikro anders als bei den Kollegen für mich ja ziemlich schwierig. Ich kann ja nicht einfach durch die Gänge, in denen womöglich noch diverse Aktentaschen stehen, manövrieren.
Hat der Landtag bei seinem 2017 fertiggestellten Umbau nicht ausreichend auf Barrierefreiheit geachtet?
Da kann man sich eigentlich nicht beschweren. Große Nacharbeiten sind glücklicherweise nicht erforderlich. Es sind aber viele Kleinigkeiten, auf die man jetzt erst stößt. Die Ausmaße meines Tisches im Plenum sind so, dass ich da noch nicht besonders gut drunter komme. In die Wahlkabine für geheime Abstimmungen komme ich mit meinem Rollstuhl wegen des Trittbrettes noch nicht rein.
Wie ist die Zusammenarbeit mit der Landtagsverwaltung?
Die ist wirklich hervorragend. Die Mitarbeitenden kümmern sich auch schnell um diese Kleinigkeiten und suchen nach guten Lösungen. Der Verwaltung ist sehr bewusst und mir selbst ist es besonders wichtig, dass wir möglichst wenig Sonderregelungen und Abweichungen vom normalen Prozedere benötigen. So soll für die Zuschauerinnen und Zuschauer, aber vielleicht auch für die Kolleginnen und Kollegen deutlich werden, dass es eine ganz normale Tatsache ist, dass hier ein Mensch mit Behinderungen im Parlament sitzt.
Zwischenfragen sollen für Sie vom Platz aus möglich sein. Was machen Sie, wenn Sie eine ganz normale Rede halten wollen?
Da werde ich zum Rednerpult fahren. Die Kollegen werden sich aber darauf einstellen müssen, dass dies einen kleinen Moment länger dauern kann, bis ich meinen Rollstuhl positioniert habe. Das werden hoffentlich alle verkraften. Wir erleben in vielen Bereichen der Gesellschaft, dass wir viel mehr auf individuelle Bedürfnisse achten müssten.
Zum Problem könnten vertrauliche Ausschusssitzungen werden. Wie können Sie die Verschwiegenheitspflichten Ihrer persönlichen Assistenten gewährleisten?
Auch da schauen wir gerade, ob und wie das rechtlich zu regeln ist. Fakt ist, dass meine Assistenten nicht nur bei Sitzungen anwesend sind, sondern gegebenenfalls auch durch ihre Tätigkeit für mich Einsicht in vertrauliche Unterlagen bekommen. Sie sind bereits bei mir arbeitsvertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber bei staatlichen Angelegenheiten ist das noch mal anders. Meine Assistenten müssen genauso wie Abgeordnete und ihre Mitarbeiter einem Sicherheitscheck unterzogen werden. Das wissen meine Assistenten aber; sie werden ihre relevanten Daten an die Landtagsverwaltung übermitteln.
Stichwort Ausschüsse: Wo würden Sie gern mitarbeiten?
Am liebsten im Wirtschafts- und Verkehrsausschuss. Das mag für Ihre Leserinnen und Leser vielleicht nicht ganz nachvollziehbar sein. Aber ich habe mich in den vergangenen zehn Jahren politisch immer für eine Verkehrswende eingesetzt. Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender der kommunalen Verkehrsgesellschaft in meinem Heimatkreis Hameln-Pyrmont und weiß, welche Probleme wir dort haben. Verkehrspolitik hat mich schon immer gereizt, was ehrlicherweise gesagt natürlich auch von meiner persönlichen Situation herrührt. Wir müssen die Mobilitätsbedürfnisse der verschiedenen Menschen beachten. Nicht jeder kann sich ein Auto leisten oder es fahren. Nicht jeder kommt in einen Bus oder Zug hinein.
Also keine Sozialpolitik, wie es vielleicht manche von Ihnen erwarten?
Ich habe auf Bundesebene in der Behindertenpolitik und im Sozialbereich gearbeitet. Natürlich werde ich mich auch im Landtag entsprechend einbringen. Wie die Ausschusszuteilung erfolgt, wird sich in dieser Woche in der Fraktion klären. Ich habe meine Wünsche platziert. Ob sie auch erfüllt werden, steht auf einem anderen Blatt.