Mitten in der niedersächsischen Südheide vermutet kaum jemand die rot-leuchtende Frucht aus Nordamerika. Verborgen hinter Kiefernbäumen erstreckt sich eine 15 Hektar große Cranberry-Plantage. Das Besondere an der Beere ist nicht nur ihr herb-fruchtiger Geschmack, sondern auch ihre Haltbarkeit und Heilkraft. Besucher entdecken den Beerenhof der Dierkings in Gilten im Heidekreis.
Es ist Erntezeit auf der Plantage der Familie Dierking in der niedersächsischen Südheide. Dort, wo einst Heidelbeeren und Kiefern wuchsen, erstreckt sich heute eine Cranberry-Plantage. Über 15 Hektar hat sich der Bodendecker gelegt. Rot leuchten die saftigen Früchte zwischen dem grünen Kraut hervor. Zehn Tonnen pro Hektar hoffen die Obstbauern vom Feld zu holen. Mit dem Geländewagen fährt Sonja Dierking raus aufs Feld: „Das ist unser Traum.“ Hofhund Flocke bleibt zurück in Gilten.
Ruhig, aber beständig zieht Wilhelm Dierking seine 200 Meter langen Bahnen über die Parzellen. Zehn Stunden am Tag schuftet er in der Erntezeit unter freiem Himmel. „Da spürt man abends gar nichts mehr“, sagt der 53-Jährige, und doch scheint es ihm wenig auszumachen. Sein wettergegerbtes Gesicht strahlt. Vor sich hin schiebt er den „Eastern Picker“. Die Erntemaschine aus den USA zupft mit einem überdimensionalem Kamm die reifen Früchte vom Kraut und befördert die Beeren vom Boden über ein Band in eine schwarze Kunststoffkiste.
Zehn Kilogramm passen in den luftigen Behälter. „Man muss ein Gefühl für die Maschine haben“, sagt Dierking. Der Klang des Fünfeinhalb-PS-Benzinmotors ist Musik in seinen Ohren. Mit Jeans, Karohemd und schulterlangen, melierten Haaren steht er da wie ein Farmer aus Amerika. „Eine Nassernte wie in den Staaten ist hierzulande nicht möglich“, sagt Dierking. Dafür würde er niemals eine Genehmigung bekommen.
„Wir sind Country-Leute“, lacht er. Die Begeisterung für die USA im Allgemeinen und für die Cranberry im Besonderen ist ihm anzumerken. Schon hebt er die volle Erntebox von der Maschine und stellt die nächste hin. Wieder 200 Meter – diesmal in die andere Richtung. Am Plantagenrand hat er Pfeile aufgestellt, seine Wege haben System. „Die Cranberry mag nicht gegen den Strich gekämmt werden“, sagt er liebevoll als spräche er von Flocke.
Der Labrador-Mischling ist der Liebling auf dem Beerenhof. Flocke hüpft er mit ihren weißen Pfoten vor der Moosbeerenhütte herum. Moosbeere, das ist die deutsche Bezeichnung für Cranberry. Sie geht der Rentnergruppe aus Schneverdingen, die gerade zu Besuch ist, auch besser über die Lippen. Neugierig stehen die Besucher vor der Schauküche in dem kanadisch anmutenden Blockhaus, das sich an das Fachwerkhaus der Dierkings anschmiegt.
Hinter der Glasscheibe hantiert eine Österreicherin. Katharina Bernhart kommt vom College für Obstbau in der Steiermark und probiert neue Cranberry-Rezepte für die Verkostung aus. „Eine faszinierende, haltbare Frucht“, sagt sie. Gekühlt lasse sich die frischt geerntete Beere über Monate lagern. Die Frucht sei nicht so süß wie ihre heimische Verwandte, die Heidelbeere, entfalte ihren Geschmack erst bei der Verarbeitung zu Fruchtaufstrich, Kompott, Saft, Nektar oder Likör. Getrocknet eigne sich die Cranberry nicht nur zum Naschen, sondern auch zum Backen.
Anneliese von Elling indes probiert die Cranberry-Kekse. Die Kundin schätzt nicht nur den Geschmack. „Der Arzt hat mir Cranberry-Saft empfohlen“, erzählt die Rentnerin. Seitdem sie täglich zwei Schnapsgläser davon trinke, leide sie nicht mehr an ihrer zuvor chronischen Blasenentzündung. „Die Heilkraft der Beere hilft bei der Vermarktung“, weiß Sonja Dierking. Die Moosbeere schwimmt quasi auf der Wellnesswelle, verspricht Schönheit und Gesundheit, wird auch als Nahrungsergänzungsmittel geschluckt. Nachweislich stärken Cranberries das Immunsystem. „Ein natürliches Antibiotikum ohne Nebenwirkungen“, betont Sonja Dierking. Die Beere helfe gegen Keime und Bakterien, bewahre die Blase, aber auch das Zahnfleisch vor Entzündungen, den Magen vor Geschwüren, die Adern vor Verkalkung und beuge der Zellalterung vor. Das wollen die Besucher gern glauben.
Flocke indes folgt den Saisonarbeitern in die Halle. Dort werden die frischen Früchte verpackt. Kräftige Männer stehen vor der Sortiermaschine am Band und trennen die guten von den schlechten Beeren, bevor sie in kleine Papp- oder Plastikschachteln mit bunten Bildern verpackt werden. Patrycja Poplawska steht an einer Drehscheibe und setzt die Deckel drauf. Die junge Frau kommt wie die anderen aus Polen, um in Deutschland Geld zu verdienen. Die Fließbandarbeit ist schwer. Anstrengender noch sei das Entkrauten der Plantage, erzählt Vorarbeiterin Malgorzata Chlebowski. Da liegen sie dann zu acht auf dem Cranberry-Flieger und zupfen das Unkraut. „Das kann man nicht länger als vier Stunden machen“, weiß auch der Betriebsleiter, „aber gemacht werden muss es.“ Sonst würde die Vaccinium Macrocarpon, so der lateinische Name der Cranberry, rasch überwuchert und verwildern, so wie auf der niederländischen Insel Terschelling, wo die Frucht aus Übersee einst strandete.
Sonja und Wilhelm Dierking wollen das Werk von Wilhelm Dierking senior, der in den 70er-Jahren die ersten Versuche mit Cranberries in Norddeutschland startete, vollenden. Ein bisschen Amerika in der Heide. Wen wundert es da, dass Sonja Dierkings Hobby Line-Dance ist. Flocke rennt zum Pick-up mit dem bunten Airbrush-Kranich. „Die Blüte erinnert an einen Kranich und die Beere wird in der Zugvogelzeit geerntet“, erklärt Sonja Dierking die Wortbedeutung der Cranberry, während Flocke um ihre Beine tänzelt und die Herbstsonne sich über die Plantage legt.