Am Montag wird die neue Kriminalstatistik für Niedersachsen veröffentlicht. Erwartet wird ein weiterer Rückgang der Straftaten. Dennoch nimmt die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, eher zu. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Die gefühlte und die faktische Kriminalität klaffen zunehmend auseinander. Das gilt aber nicht für alle Personengruppen in gleicher Art und Weise. Wir haben da ein Paradoxon: Diejenigen, die eigentlich weniger gefährdet sind, haben eine sehr große Furcht. Andere haben eine geringe Furcht, obwohl sie ein hohes Risiko haben. Die erste Gruppe sind die älteren Damen, die sich fürchten, Opfer eines Überfalls zu werden. Faktisch haben sie ein geringes Risiko, weil sie sich präventiv verhalten, indem sie zum Beispiel abends die Haustür immer sorgfältig abschließen. Die andere Gruppe ist die der jungen Männer. Die haben tatsächlich ein hohes Risiko, weil sie sich nachts draußen herumtreiben. Insgesamt ist die Gefahr geringer, die Furcht aber größer geworden.
Inwieweit verändern Gewaltszenen in elektronischen Medien und sozialen Netzwerken das Sicherheitsgefühl des Einzelnen?
Es gibt ganz klar einen Zusammenhang mit der Rezeption von Gewalt in den Medien. Wer häufig TV-Sendungen wie Aktenzeichen XY guckt oder die Berichterstattung über Straftaten in den Boulevardzeitungen verfolgt, hat ein größeres Angstgefühl. Die Frage ist, ob Menschen diese Berichterstattung suchen, weil sie Angst haben oder ob ihnen die Berichterstattung erst Angst macht. Gewalt findet zunehmend auch in den sozialen Netzwerken im Internet statt. Die Algorithmen der Suchmaschinen führen denjenigen, der danach sucht, zu immer neuen Berichten über Straftaten. Dadurch entsteht der Eindruck, dass auch immer mehr passiert, obwohl dies statistisch betrachtet nicht der Fall ist. Im Gegenteil, die Zahl der Straftaten geht zurück. Auch die Macht der Bilder darf man dabei nicht unterschätzen. Wir haben immer mehr authentische Aufnahmen von Gewalt durch Überwachungskameras, auch in seriösen Medien.
In der polizeilichen Kriminalstatistik werden nur die registrierten Delikte erfasst. Ist es die Dunkelziffer, die große Unbekannte, die uns sorgt?
Auch da muss man differenzieren. So werden heute Sexualstraftaten angezeigt, die schon viele Jahre zurückliegen. Ich denke da an die Missbrauchsfälle in der Kirche oder an die aktuelle #MeToo-Debatte. Die Altfälle tauchen jetzt in der Statistik auf. Dabei sinken die registrierten Zahlen, obwohl die Anzeigebereitschaft steigt.
Niedersachsen schickt mehr Polizisten auf Streife. Fühlen sich Passanten tatsächlich sicherer, wenn die Polizei präsenter ist?
Passanten fühlen sich sicherer, wenn mehr Polizisten unterwegs sind. Beamte mit Schutzkleidung und Waffe wirken hingegen eher bedrohlich. Das ist kontraproduktiv. Da fühlen sich die Menschen verunsichert und denken, was muss das hier gefährlich sein. Eine einzelne Security-Kraft oder ein einzelner Beamter auf Streife können das Sicherheitsgefühl hingegen erhöhen.
Mancherorts sorgen Bürgerwehren für gefühlte Sicherheit. Was halten Sie von den freiwilligen Aufpassern?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Bürgerwehren fördern das Denunziantentum und die Selbstjustiz, zumal diese Personen manchmal ein problematisches Rechtsverständnis haben. Es gibt aber auch unproblematische Bürgerwehren, durch die sich die Gefahr von Wohnungseinbrüchen tatsächlich reduzieren lässt. Das ist jedoch regional sehr unterschiedlich.
Für Einbrüche werden häufig Ausländer verantwortlich gemacht. Schnell ist von osteuropäischen Banden die Rede. Woran liegt das?
Das wird zum Teil von der Polizei kolportiert. Allerdings beträgt die Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen nur 16 Prozent. Die Verurteilungsquote liegt bei zwei Prozent. Daraus lassen sich nicht wirklich Schlüsse ziehen. Wir haben beim Kriminologischen Forschungsinstitut 1000 Akten zum Thema analysiert und keine besonderen Hinweise auf ausländische Täterbanden finden können. Aber auch wir konnten nur die Wohnungseinbrüche analysieren, die aufgeklärt wurden.
Der Zuzug von Flüchtlingen verändert das Straßenbild. Frauen fürchten sich vor jungen Männern, die in Gruppen auftreten. Was raten sie den Betroffenen?
Es ist nicht gut, die eigene Handlungsfreiheit aus Angst einzuschränken. Frei nach dem Motto: Wenn ich nicht rausgehe, kann mir auch nichts passieren. Man muss mit der Angst umgehen, sonst wird sie nur größer. Gerade junge Frauen, die Angst haben, abends allein im Dunkeln einen großen Platz zu passieren, sollten sich von einer Freundin oder einem Bekannten, dem sie vertrauen, begleiten lassen, um das eigene Sicherheitsgefühl zu erhöhen und die Erfahrung zu machen, dass nichts passiert. Wenn das nicht geht, ist auch ein Telefonat in der Situation sinnvoll. So kann der Angerufene gegebenenfalls schnell die Polizei verständigen. Inzwischen gibt es auch schon Telefon-Apps, mit denen sich ein Kontakt zu einer vertrauensvollen Person halten lässt. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, gering, aber dadurch, dass mehr junge Männer auf der Straße unterwegs sind, ist die potenzielle Gefahr doch gewachsen. Das muss man ernst nehmen.
Das Interview führte Silke Looden.
Zur Person:
Thomas Bliesener ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Der Kieler Professor hat Psychologie, Soziologie und Betriebswirtschaft studiert. Beim KFN hat er sich die Prävention von Straftaten zur Aufgabe gemacht.