Stürzt in Deutschland ein Flugzeug ab, fahren die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) sofort an die Unglücksstelle. Als im Frühjahr zum ersten Mal eine Maschine auf dem Brocken abstürzte, hatten es die Braunschweiger Experten nicht weit. Aber wie gehen sie bei ihrer Arbeit vor?
„Die Untersucher werden gebeten, sich im Besprechungsraum einzufinden.“ Wenn diese Worte durch die Büros und über die Flure der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung hallen, dann wissen die Mitarbeiter, dass irgendwo etwas Schlimmes passiert ist.
So wie an diesem Aprilmorgen: Gegen halb neun ist auf dem Brocken ein Flugzeug mit einem Windmast der Wetterstation kollidiert und abgestürzt. Die einmotorige Cessna geht in Flammen auf, die beiden Insassen sterben.
Nach der Besprechung fahren vier Absturz-Experten zum Brocken. Auf dem höchsten Harz-Gipfel angekommen, beginnen sie sofort mit der Spurenaufnahme, vermessen das Trümmerfeld, das Wrack, die Lage der Toten, suchen nach Trümmerteilen und machen Hunderte von Fotos.
„Wir sind keine Kriminalisten. Uns geht es darum herauszufinden, was die Ursachen des Absturzes sind“, sagt Holger Röstel, der für den Brocken-Fall zuständig ist. Und BFU-Sprecher Germout Freitag ergänzt: „Es kümmern sich andere darum, Schuldige zu finden.“
Teilweise können die Unfalluntersucher schon aus den Gegebenheiten vor Ort erste Erkenntnisse ziehen. Die Verteilung der Flugzeugteile verrate zum Beispiel, in welchem Winkel die Maschine aufgetroffen ist. „Liegen die Teile alle in eine Richtung verstreut, spricht das für einen flachen Aufschlagwinkel“, sagt Röstel. Meistens finde die richtige Arbeit aber in Braunschweig statt.
Dort ist die BFU in einem biederen Flachbau am Flughafen Braunschweig-Wolfsburg untergebracht. Drinnen hocken die Angestellten auf zwei Etagen in ihren „Denkwaben“, wie es Freitag ausdrückt. An den Wänden, die zu seinem Büro im Erdgeschoss führen, hängen Bilder von Unglücksstellen: kaputte Flugzeuge, kaputte Hubschrauber, Männer in Overalls, die kaputte Maschinen begutachten. Freitag nennt die Eckdaten der Bundesbehörde: 34 Mitarbeiter, 17 davon Unfalluntersucher (mit gültiger Pilotenlizenz), der Rest arbeitet im Labor oder in der Verwaltung.
1300 Fälle werden der Behörde pro Jahr gemeldet, 200 bis 300 davon geht sie nach. Die Entscheidung dazu fällt in der täglichen Elf-Uhr-Konferenz. Sind aus einem Fall keine Erkenntnisse zu erwarten, die der Flugsicherheit dienen, legt sie ihn gleich zu den Akten. Verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen, ist die BFU nur unter zwei Umständen, nämlich „wenn es einen Unfall mit Toten oder Schwerverletzten gab oder eine schwere Störung vorlag“, erklärt Freitag. Unter schwerer Störung verstehen die Luftfahrtexperten zum Beispiel einen Beinahe-Unfall.
In Freitags Büro sitzt heute auch Holger Röstel und erklärt die Arbeit der Unfalluntersucher: „Es ist wie bei einem Puzzle mit 10 000 Teilen“, sagt Röstel, der für den Brocken-Fall zuständig ist. Man fange am Rand an und arbeite sich zum Problemkern vor. Oftmals könnten sie nicht alle Teile zuordnen. Aber das sei nicht schlimm, solange diese weißen Flecken an der Peripherie lägen. Wichtige Puzzlestücke liefern vor allem die Flugzeuginstrumente, wie der Flugdatenschreiber („black box“), GPS-Geräte oder Höhenmesser. Doch auch Laptops, Smartphones, Tablets und Festplatten, die allesamt bis ins kleinste Detail ausgelesen werden, erlauben Rückschlüsse auf Flughöhe, Luftdruck oder die Position im Luftraum.
Nach und nach ergebe sich ein Gesamtbild, „wie es abgelaufen sein könnte“, sagt Röstel. Dabei brüten er und seine Kollegen oft stundenlang vor einer Tafel mit Haftzetteln, schauen sich immer wieder Fotos von der Unfallstelle an oder erstellen Mindmaps. Manchmal sehe man sich nach einem Jahr ein Foto an und entdecke doch noch ein neues Detail, das die eigene Theorie über den Haufen werfe, sagt Röstel. Oder ein Kollege meine, „nein, das ist ganz anders abgelaufen“, erzählt Röstel. Unweigerlich stellt man sich die Flugunfalluntersucher wie Ermittler in Krimis vor.
Dann und wann gehen sie auch in die sogenannte Trümmerhalle. Ein Hangar, in dem alles liegt, was nach einem Unfall aufgesammelt wurde. „Ich gehe hier nicht gerne rein“, sagt Freitag, als er die dicke Eisentür aufmacht.
Die Halle verströmt etwas Morbides: Auf einer Fläche, fast so groß wie ein Fußballfeld, liegen aufgerissene und zusammengedrückte Flugzeuge und Trümmerteile. Aus einigen baumeln Sitze, Kabel und Instrumente heraus. Bei anderen sind Motor und Cockpit zusammengeschmolzen. Dreck hängt noch an Maschinen, die sich beim Absturz bis zu einem Meter tief in den Boden gebohrt haben. Neben den Flugzeugresten liegen auch persönliche Gegenstände: Brillenetuis, Wasserflaschen, Taschentücher.
„Da merkt man plötzlich, in diesen Trümmern sind Menschen gestorben“, sagt Röstel. Jeder der zwanzig Fälle in der Halle hat sein eigenes abgetrenntes Quadrat. In der Mitte stehen die Überreste eines besonders schrecklichen Unglücks. Zwei Sportflugzeuge sind in der Luft zusammengestoßen. „In dem einen sind drei Kinder und ein Erwachsener gestorben, in dem anderen zwei Erwachsene“, sagt Freitag.
Dann blickt der Familienvater auf die Wracks, die sich gegenüberstehen. „Unsere Aufgabe ist es, Erkenntnisse zu liefern, die die Luftfahrt von morgen oder übermorgen sicherer machen“, sagt er. Für das Brocken-Unglück sei die Ursache noch nicht vollständig geklärt – daran werden die Mitarbeiter vermutlich noch eine Weile puzzeln .