Die rot-grüne Koalition verfügt über keine Mehrheit mehr. „Ich halte eine kurzfristige Selbstauflösung des Landtags für unabdingbar“, erklärte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am Freitag in Hannover. Den von der CDU geforderten Rücktritt lehnte der Regierungschef dagegen kategorisch ab.
„Ich stelle mich jederzeit gern dem Wählerwillen, aber ich werde einer Intrige nicht weichen.“ Der Schritt Twestens sei ausschließlich aus „eigennützigen Gründen“ erfolgt, meinte Weil verärgert. „Das ist persönlich unsäglich und sehr schädlich für die Demokratie.“ Wenn die CDU sich dieses Verhalten zunutze mache, beteilige sie sich aktiv an der Missachtung des Wählerwillens.
Nach den Vorschriften der Landesverfassung über die Selbstauflösung des Parlaments sind anschließende Neuwahlen theoretisch auch noch parallel zur Bundestagswahl am 24. September möglich. Regulär sollte der Urnengang in Niedersachsen am 14. Januar 2018 stattfinden. Der Landtag kommt nach derzeitigen Planungen wieder am 16. August zusammen.
Die 54-jährige Abgeordnete, die seit 2008 im Leineschloss von Hannover sitzt und dort eher nur in der zweiten Reihe agierte, begründete den heimlich vorbereiteten Wechsel mit ihrer Enttäuschung darüber, dass die Basis sie in ihrem Wahlkreis Rotenburg nicht erneut als Direktkandidatin für die Landtagswahl aufgestellt habe.
„Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Vorausgegangen sei ein längerer Entfremdungsprozess. „Der Schritt fällt mit nicht leicht, aber er ist notwendig.“ Ihre politische Zukunft sehe sie in der CDU. „Ich muss mich in der Union nicht verbiegen“, meinte die bekennende Anhängerin eines schwarz-grünen Bündnisses.
Jürgen Trittin: "Stimmenkauf"
Natürlich werde er seiner Fraktion gern empfehlen, Twesten aufzunehmen, sagte CDU-Fraktionschef Björn Thümler. Dies werde spätestens am Dienstag geschehen. Die neuen Mehrheitsverhältnisse machen auch eine Neubesetzung sämtlicher Landtagsgremien einschließlich der beiden laufenden Untersuchungsausschüsse erforderlich.
Twesten und CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann traten Spekulationen über einen politischen Deal entgegen. „Angebote hat es keine gegeben“, erklärte der CDU-Vorsitzende. Der Weg in den neuen Landtag ist der früheren Zollmitarbeiterin jedenfalls verbaut; die Unionslisten für den neuen Landtag sind längst beschlossen.
Von einem „Stimmenkauf“ durch die CDU sprach dagegen Niedersachsens Ur-Grüner Jürgen Trittin. Seiner bisherigen Parteifreundin warf er vor, „Schindluder“ mit den Stimmen der Bürger“ getrieben zu haben. Grünen-Fraktionschefin Anja Piel forderte die Überläuferin auf, ihr Mandat umgehend niederzulegen. Schließlich sei sie für die Umsetzung grüner Ziele gewählt worden.
Auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz verurteilte das Verhalten Twestens als „Verrat“ an den Wählern wie an Rot-Grün. Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD), der ebenfalls eine rot-grüne Regierung mit einer Einstimmenmehrheit führt, nannte die Entwicklungen im Nachbarland „traurig“.
Die Entscheidung seines Amtskollegen Stephan Weil für rasche Neuwahlen sei „konsequent“ und verdiene Respekt. Die CDU im Bund wertete den Seitenwechsel als Rückenwind für sich. Twestens Schritt zeige, dass der verlässliche Kurs der Union auch über die Parteigrenzen hinweg überzeuge, meinte Bundesverteidigungs-ministerin Ursula von der Leyen, die selbst aus Niedersachsen stammt. Mathias Middelberg, Vorsitzender der niedersächsischen CDU-Landesgruppe im Bundestag, sah einen weiteren Beleg für den Verfall von Rot-Grün.
Landtagsfraktionschef Thümler hatte zuvor einen Rücktritt Weils gefordert, weil dies das „probate Mittel“ für schnelle Neuwahlen sei. Auch ein konstruktives Misstrauensvotum, bei dem ein amtierender Ministerpräsident zwingend durch die Neuwahl eines Nachfolgers ersetzt wird, schloss er nicht aus. Dort könnte theoretisch CDU-Spitzenkandidat Althusmann antreten, obwohl er nicht Mitglied des Landtags ist. Laut Verfassung muss ein Ministerpräsident – anders als in anderen Bundesländern – nicht dem Parlament angehören. „Diese Frage stellt sich derzeit nicht“, sagte der frühere Kultusminister. Erst müssten alle verfassungsrechtlichen Fragen und Möglichkeiten geklärt werden.