Ein heller Stall, viel Platz, viel frische Luft. Einmal am Tag ein Ausflug auf die Weide. Immer frisches Wasser und Futter. Glückliche Milch von glücklichen Kühen. Frische Eier von frei laufenden Hühnern, zarte Nackensteaks von sich im Dreck suhlenden Sauen. So sieht wohl die Wunschvorstellung der meisten Menschen aus, wenn sie darüber nachdenken, wo ihre Lebensmittel eigentlich herkommen. Nicht erst seit dem Agrarpaket und den darauffolgenden Bauernprotesten 2019 ist die Debatte um das Tierwohl in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Tierwohl allerdings sei keine wissenschaftliche Begrifflichkeit, sagt Nicole Kemper, Leiterin des Instituts für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover. In einem wissenschaftlichen Aufsatz bemängelte sie, dass der Begriff heutzutage inflationär benutzt werde.
Wohlbefinden mitdenken
"Jeder hat seine Vorstellungen, was darunter zu verstehen ist", sagt sie. Dabei fuße die Wortschöpfung auf einer ungenauen Übersetzung aus dem Englischen – animal welfare. Direkt übersetzt bedeutet das Tierwohlfahrt. "Im Deutschen ist man zu der Definition übergegangen, dass darunter mehr verstanden wird als nur die reine Gesundheit. Es muss der Begriff Wohlbefinden mitschwingen und mitgedacht werden", sagt die Veterinärmedizinerin. Wohlbefinden bedeute, dass Tiere ihrer artspezifischen Verhaltensweise nachgehen könnten.
Bei Schweinen zum Beispiel reiche es nicht, ihnen genug Platz einzuräumen. Hätten die Tiere nicht genug Struktur und Beschäftigung, könne es passieren, dass sie die Schwänze ihrer Artgenossen anknabbern. "Schweine sind sehr organisiert. Die haben gerne einen Platz zum Liegen, einen Platz, an dem sie fressen, einen Platz an dem sie aktiv sind und einen Platz, der die Toilette ist", sagt Kemper. Ob genug Tierwohl in einem Stall geboten sei, hänge nicht mit seiner Größe zusammen. "Es gibt Studien, die das belegen. Die decken sich auch mit unserer Erfahrung", sagt die Tiermedizinerin.
Diesen Eindruck hat auch Mareike Dehlwes von der Molkerei Dehlwes in Lilienthal. So gehe es den Tieren besser in einem neuen Stall, auch wenn sie dort mit 499 Artgenossen stünden, als in einem alten, häufig geflickten Stall mit Anbindehaltung, den sie sich mit neun weiteren Kühen teilten.
"Es steht und fällt mit den Menschen"
Genauso wenig gebe Kemper zufolge die Unterteilung in konventionell und ökologisch Auskunft über das Wohlbefinden der Tiere. "Es steht und fällt mit den Menschen", sagt die Experten. Konventionelle Viehhaltung bedeute deshalb nicht, dass die Tiere schlecht gehalten würden. "Man kann nicht pauschal sagen, diese Kategorie ist gut und diese Kategorie ist schlecht", sagt sie. Kemper könne verstehen, dass sich viele Landwirte ungerecht behandelt fühlen. "Aber es gibt leider immer auch die schwarzen Schafe."
2019 ist beispielsweise Bad Grönenbach mit dem "Allgäuer Tierskandal" in die Schlagzeilen geraten. Zwei Landwirte und vier Angestellte sind wegen Tierquälerei angezeigt worden. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft: Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Wie der Bayerische Rundfunk berichtete, sollen 58 Rinder nicht dem Tierarzt vorgeführt worden seien, obwohl eine Behandlung vonnöten gewesen wäre. Außerdem seien den Tieren in mehreren Fällen beim Transport Schmerzen zugefügt worden. Ob die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft haltbar sind, klärt ein Gericht.
Der gleiche Betrieb ist im März 2021 erneut in die Schlagzeilen geraten: Wie die Allgäuer Zeitung berichtet, habe ein Tierschützer ein Video gedreht, in welchem klar erkennbar sei, dass der Stall des Landwirtes überbelegt ist. Und zwar um 15 Prozent, schreibt die Zeitung und beruft sich dabei auf die Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit, die den Betrieb regelmäßig überprüfe.
Kritik an Klassengesellschaft
Dass solche Fälle die Ausnahme sind, davon ist der Osterholzer Kreislandwirt Stephan Warnken überzeugt. Die meisten Angehörigen seiner Zunft legten Wert darauf, Umwelt und Tiere zu schützen. "Wir leben schließlich davon", sagt er. Um teure Investitionen auch im Bereich des Tierwohls zu ermöglichen, seien aber auch die Verbraucher gefragt. Für einen besseren Überblick, aus welcher Haltungsform das von ihnen konsumierte Fleisch stammt, gibt es mittlerweile verschiedene Tierwohllabel.
Unter anderem vom Handel selbst werden die Produkte in vier Kategorien eingeteilt. Kemper sieht diese Einteilung kritisch: "Eigentlich sollte der Anspruch sein, dass wir all unseren Nutztieren ein gutes Leben bieten", sagt sie. Es dürfe nicht passieren, dass es eine Klassengesellschaft unter den Tieren gebe. Trotzdem habe Deutschland eine gute Nutztierhaltungsverordnung, die auch von den unteren Stufen des Labels erfüllt würde. Für die Transparenz sei ein solches Siegel zwar gut, aber wie Stephan Warnken glaube auch die Tiermedizinerin nicht daran, dass die Verbraucher am Ende tatsächlich das teurere Produkt kaufen würden.