Herr Weil, können Sie sich in einen Juso Mitte 20 hineinversetzen, der sagt: „Seit ich politisch denke, werde ich von Frau Merkel regiert. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass die SPD die CDU-Chefin noch einmal zur Kanzlerin wählt.“
Stephan Weil: Natürlich kann ich das. Nur bin ich eben kein Juso mehr, sondern ein paar Jahre älter. Deshalb würde ich antworten: Ich verstehe, dass dich das gehörig nervt. Aber dieses Gefühl darf für eine so wichtige Frage doch am Ende nicht entscheidend sein.
Wie versuchen Sie also, ihn in wenigen Sätzen zu überzeugen, doch noch einer Großen Koalition zuzustimmen?
Ich würde ihn fragen: Bist du nicht bewusst in eine Partei eingetreten, die sich im Zweifel auch mal mit etwas kleineren Schritten begnügt? Eben dann, wenn sie die ganz großen gerade nicht schafft? Und was geschieht, wenn die Regierungsbildung scheitert? Wer würde denn wohl bei Neuwahlen profitieren? Und was heißt das dann für die SPD?
Hätten Sie solche Worte in Ihrer Zeit als Juso überzeugt?
Schwer zu sagen. Als ich 1980 in die SPD eingetreten bin, hieß der Kanzler Helmut Schmidt. Das war für einen jungen, undogmatischen Linken alles andere als eine rauschende Ballnacht. Mir hat aber damals schon imponiert, dass die SPD in schwierigen Situationen immer Verantwortung übernommen hat. Der junge Stephan Weil hätte in einer vergleichbaren Situation wie heute vielleicht auch gemeinsam mit anderen Jusos protestiert. Innerlich wäre ihm aber wohl angst und bange geworden bei dem Gedanken, tatsächlich Teil einer Mehrheit zu sein. Wie ich damals auf einem Parteitag abgestimmt hätte, weiß ich nicht. Heute bin ich mir sicher.
Der Widerstand gegen die Große Koalition ist diesmal nicht nur Sache von Jusos und einigen Linken. Der Riss geht quer durch die Partei. Viele fürchten, die SPD würde in einer Großen Koalition noch einmal an Profil verlieren – und ihr könnte der Verlust der Existenz drohen. Ist das eine hysterische Sicht?
Es geht für die SPD in der Tat um viel. Ich verstehe diese Fragen, ich stelle sie mir doch auch. Ohne eine tief greifende Erneuerung wird es eng für die SPD. Aber diese Erneuerung ist als Regierungspartei nicht schwerer als in der Opposition, leichter allerdings auch nicht. Sie wird auch Zeit brauchen, und die haben wir nicht, wenn es zu Neuwahlen kommt.
Fürchten Sie im Fall von Neuwahlen den Absturz der SPD und eine Stärkung der AfD?
Wenn ich an Neuwahlen denke, fällt mir manch Schlechtes ein. Und so gut wie nichts Gutes.
Die Gegner der Großen Koalition argumentieren, es müsse ja keine Neuwahlen geben, sondern es gebe dann immer noch die Minderheitsregierung als Option.
So wie ich die Sorge um die SPD ernst nehme, erwarte ich von Kritikern, dass sie sich mit der harten Realität auseinandersetzen, die sich stellen wird, wenn der Parteitag nein zu Koalitionsverhandlungen sagt. Das ist kein Glasperlenspiel. Die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen ist im Fall eines Scheiterns der Regierungsbildung sehr hoch.
Und was sagen Sie zur Option einer Minderheitsregierung?
Nach dem komplizierten Wahlergebnis in Niedersachsen habe ich mich auch persönlich mit dieser Frage befassen müssen. Danach kann ich sagen: Wer in dieses Glas geschaut hat, möchte es nicht austrinken.
Blicken wir auf die Sondierungsbilanz. Kritiker sehen in vielen Verhandlungserfolgen nur Scheinriesen. Einige verweisen zum Beispiel darauf, die Vereinbarungen zur Stabilisierung des Rentenniveaus vollzögen weitgehend nur nach, was als Rentenentwicklung ohnehin prognostiziert sei.
Das ist falsch. Der entscheidende Punkt ist doch: Wenn die herausverhandelten Fortschritte den Kritikern zu klein sind, können sie es wirklich verantworten, dass diese Fortschritte überhaupt nicht kommen? Gerade bei den Renten können wir doch nicht allen Ernstes darauf verzichten, etwas für die zu tun, die nach jahrzehntelanger Arbeit nur eine Mini-Rente bekommen. Wir sagen, wir wollen Politik für solche Menschen machen. Dann müssen wir es jetzt auch tun.
Mehr Geld für die Pflege, die paritätische Aufteilung der Krankenkassenbeiträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Bund soll sich bei der Bildung beteiligen – all das sind Verhandlungserfolge. Fehlt der SPD die passende Überschrift, um ihre Parteimitglieder anzusprechen und mitzunehmen?
Meine persönliche Formel ist: Wir übernehmen Verantwortung. Wir überlassen diesen Staat und dieses Land nicht freiwillig politischen Kräften, die etwas vollkommen anderes wollen als die SPD.
Laut Umfragen glauben die Bürger, CDU und CSU hätten sich in den Sondierungsgesprächen besser durchgesetzt als die SPD.
Ist das bei dieser Diskussion ein Wunder? Wenn es ein Haar in der Suppe gibt, kann man über das Haar sprechen oder über die Suppe, in der es schwimmt. In der SPD reden viele derzeit vor allem über das Haar. Dass so etwas bei den Bürgern den Eindruck hinterlässt, die SPD habe nicht punkten können, ist einleuchtend. In der Sache sieht es aber anders aus. Wir haben mit unserem 20-Prozent-Ergebnis bei der Bundestagswahl viel durchsetzen können.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt spottet schon, wenn die SPD-Spitze nicht fähig sei, ihre Verhandlungserfolge überzeugend darzulegen, könne er das auch übernehmen und auf dem SPD-Parteitag in Bonn sprechen.
Herr Dobrindt ist mir so etwas von wurscht, das ahnen Sie gar nicht.
Gibt es Kräfte in der Union, die eine Koalitionsbildung mit der SPD hintertreiben?
Den Eindruck kann man in der Tat gewinnen. Es gab und gibt eine bemerkenswerte Zahl von Provokationen. Mir kann kein Mensch erzählen, dass das nicht auch Ausdruck von politischem Kalkül ist. Die SPD mag zurzeit in der Öffentlichkeit als uneins dastehen. Aber wer bei den Sondierungen dabei war, weiß, was für tiefe Gräben zwischen CDU und CSU bestehen. Ich weiß nicht, warum die Union überhaupt Union heißt. Als eine solche hat sie sich jedenfalls nicht präsentiert.
In Niedersachsen haben SPD und CDU die gesamten Koalitionsverhandlungen in nur zwei Wochen abgeschlossen. Was können die Handelnden in Berlin von denen in Hannover lernen?
Union und SPD haben in Niedersachsen jahrzehntelang eine intensive Abneigung gepflegt. Auch in Niedersachsen gab es nach den Landtagswahlen Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung. In einem waren wir uns einig: Die Politik darf sich dann nicht vor die Bürgerinnen und Bürger stellen und sagen: Wir bekommen es nicht geregelt, bitte wählt noch einmal. Was sollen sich die Wähler in einer solchen Situation denn denken? Das kann nicht gut sein für die Demokratie. Deswegen müssen die Parteien sich nach meiner Überzeugung zu einem Kompromiss durchringen. Mir fällt das übrigens auch nicht schwer.
Die gesamte SPD-Parteispitze hat am Sondierungspapier mitverhandelt. Wenn der Parteitag Nein sagt, wer kann dann überhaupt noch die Partei führen?
Glauben Sie es oder nicht, ich befasse mich mit dieser Konstellation nicht, sondern ich arbeite ausschließlich dafür, dass sie nicht eintritt. Und ich habe, ganz unabhängig davon, wie der Einzelne die Frage beurteilt, eine Bitte an die Delegierten am Sonntag in Bonn.
Nämlich?
Ich bin ein großer Anhänger der repräsentativen Demokratie. Aber ich glaube, dass an bestimmten Knotenpunkten die direkte Demokratie nicht nur die Basis verbreitert, sondern auch für Frieden sorgen kann. Deshalb finde ich es richtig, wenn die 600 Delegierten sagen würden: Am Ende sollen die mehr als 400.000 SPD-Mitglieder die Möglichkeit haben, anhand eines Koalitionsvertrags selbst den weiteren Kurs ihrer Partei zu bestimmen. Das wäre für alle das Beste.