Die SPD ringt auf ihrem Sonderparteitag in Bonn um den richtigen Kurs. Eigentlich sind die Sozialdemokraten seit dem 24. September mit nichts anderem beschäftigt: diskutieren, sich hinterfragen, abstimmen. Geschlossen tritt die SPD dabei nicht auf, im Gegenteil. Mehrheitlich umjubelt wurde am Abend der verlorenen Bundestagswahl nur der spontane Entschluss, den Gang in die Opposition antreten zu wollen. Es wirkte für die in der Koalition mit der Union immer mehr geschrumpfte SPD wie eine Erlösung.
Mit dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen fand diese Euphorie ein schnelles Ende. Seitdem geht es nur noch um ein Ja oder Nein zur Groko. Und jeder Genosse, jede Genossin macht sich diese Entscheidung nicht leicht. In Bremen hatten sich noch am frühen Freitagabend Mitglieder und Parteitagsdelegierte zu einem Meinungsaustausch getroffen, zu dem auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil eingeladen war. Das Ergebnis: Die anwesenden etwa 200 Genossen stimmten mit einer deutlichen Mehrheit gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Etwa zwei Drittel seien gegen eine Groko gewesen, etwa ein Drittel dafür, es mit Verhandlungen zu versuchen, so ein Teilnehmer gegenüber dem WESER-KURIER.
Gespannt auf das Stimmungsbild war auch die Bremer Bundestagsabgeordnete Sarah Ryglewski, die als Mitglied des SPD-Bundesvorstands am Sonderparteitag teilnehmen wird. Ein besonderes Prozedere sei diese Vorbesprechung aber nicht, „wir machen das vor jedem Parteitag“, so Ryglewski.
Zehn Bremer stimmen ab
Doch Normalität und Routine haben in diesen Tagen keinen Platz in der SPD: Die Partei kämpft um ihre politische Zukunft. Acht Bremer Delegierte von insgesamt 600 stimmen in Bonn ab, hinzu kommt neben Ryglewski noch Bürgermeister Carsten Sieling, der ebenfalls im SPD-Bundesvorstand sitzt. Eine Vorab-Befragung des WESER-KURIER ergab folgendes Ergebnis: Drei sind für Koalitionsgespräche, vier dagegen, drei sind noch unentschieden.
Auch die niedersächsischen Genossen sind sich nur in einem Punkt einig: Genaue Prognosen mag niemand abgeben. „Das kann so oder so ausgehen. In jedem Fall wird es knapp“, sagt Innenminister Boris Pistorius im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Die gleichen Worte wählt Matthias Miersch, Bundestagsabgeordneter aus Hannover und Sprecher der SPD-Linken. Dabei gilt der bange Blick eher anderen Landesverbänden, die sich bereits ablehnend gegen die Sondierungsergebnisse geäußert haben. Die Niedersachsen selbst dürften bei allen Bauchschmerzen mehrheitlich für eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen stimmen.
Was soll die SPD tun? Bovenschulte analysiert die innere Zerrissenheit
Wie schwer der SPD die Entscheidung für oder gegen eine erneute Große Koalition fällt, hat wohl keiner so präzise analysiert, wie der ehemalige Bremer Landesvorsitzende Andreas Bovenschulte. Der Mann, der die Genossen von 2010 bis 2013 führte und dann plötzlich Bürgermeister in der niedersächsischen Gemeinde Weyhe wurde, hat sich schon vor Tagen auf Facebook geäußert. Die sechs Fragen, die Bovenschulte sich da stellt, und vor allem seine Antworten dürften ziemlich genau das widerspiegeln, was viele andere Genossen ebenfalls umtreibt.
Die zwei wichtigsten lauten: „Würde die SPD von einem Eintritt in die Große Koalition politisch profitieren? Bovenschultes Antwort: „Wahrscheinlich nicht“, dazu fehlten im Sondierungspapier „die großen symbolischen Erfolge“. Und die Gegenfrage: „Würde die SPD von einer Absage an eine Große Koalition politisch profitieren?“ Wieder lautet die Antwort: „Wahrscheinlich auch nicht.“ Seine Begründung: „Viele Menschen nähmen es der SPD übel, wenn sie die Chance vertun würde, die guten Dinge, die sie in den Sondierungsgesprächen durchgesetzt hat, in die Praxis umzusetzen.“
Was also sollte die SPD tun? Bovenschultes Kompromiss, letztlich doch der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU zuzustimmen, steht für die innere Zerrissenheit der Mehrheit der Genossen: Daran führe letztlich „kein Weg vorbei“, lautet sein Fazit, verbunden mit dem Hinweis, dass aber nur ein weiterer großer Erfolg bei den Koalitionsverhandlungen eine Mehrheit der SPD-Mitglieder für eine Neuauflage der Groko sichern würde.
Aulepp: „Der Apfel ist mir zu sauer“

Bleibt weiter skeptisch: Bremens SPD-Landesvorsitzende Sascha Aulepp.
Mit diesen „Gewissensfragen“ quälen sie sich alle in der SPD herum. Während die einen, wie Bovenschulte, eher für das Wagnis Regierungsbündnis sind, finden andere nach langem Abwägen mehr Argumente dagegen. Doch selbst hier fehlt vielen Groko-Gegnern die Selbstgewissheit. So lässt sich bei aller Skepsis auch die amtierende SPD-Landeschefin Sascha Aulepp noch ein Hintertürchen offen. Nach dem parteiöffentlichen Delegiertentreffen sagte sie dem WESER-KURIER am Freitagabend: „Ich war vor dem Treffen schon skeptisch, und die heutige Debatte hat das noch verstärkt.“ Sie werde, falls in Bonn nichts Besonderes mehr passiere, gegen die Aufnahme von Koalitionsgesprächen stimmen. „Der Apfel, in den wir beißen müssten, ist mir einfach zu sauer“, so Aulepp. SPD-Bürgermeister Carsten Sieling hatte sich hingegen schon frühzeitig festgelegt. Für ihn ist das Sondierungspapier „eine gute Grundlage für Verhandlungen“.
Für Janne Herzog nicht. Die Entscheidung der stellvertretenden Vorsitzenden der Bremer Jusos: „Ich lehne Koalitionsverhandlungen mit der Union ab und werde deshalb am Sonntag mit Nein stimmen. Es ist keine deutliche Handschrift nach außen erkennbar.“ Uwe Schmidt, Bundestagsabgeordneter aus Bremerhaven, vertritt die gegenteilige Meinung. „Ich spreche mich für weitere Koalitionsverhandlungen aus. Bei den Sondierungen wurde vieles vereinbart, was wir gefordert haben. Deshalb müssen wir hier weitermachen.“
Bremer Jusos wollen gegen Verhandlungen stimmen

Ihm reichen die Sondierungsergebnisse nicht: Joachim Schuster, SPD-Mitglied des Europaparlaments.
Der Bremer Europa-Abgeordnete Joachim Schuster wiederum wollte sich auch erst nach der Vorbesprechung der Bremer Delegierten entscheiden. Danach war für ihn klar: „Ich werde nicht zustimmen.“ Nur die Bremer Jusos hatten von vornherein keine Zweifel. Sie fordern, wie ihr Bundesvorsitzender Kevin Kühnert, dazu auf, Koalitionsverhandlungen abzulehnen. Landesvorsitzender David Ittekkot: „Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche sind eine herbe Enttäuschung.“ Besser sei eine Minderheitsregierung oder baldige Neuwahlen.
Der niedersächsische Landesvorstand um Parteichef Stephan Weil (siehe auch Interview) hat sich dagegen einstimmig für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen ausgesprochen. Der Ministerpräsident hat es in Hannover schließlich vorgemacht, wie man Gegensätze pragmatisch überwindet und ein funktionierendes Bündnis mit der CDU zimmert. Vorbehalte gibt es trotzdem reichlich. Auf zwei Drittel Ja und ein Drittel Nein schätzen Teilnehmer eines Treffens von Parteispitze und Delegierten am vergangenen Sonntag die Stimmungslage zwischen Küste, Harz und Heide ein. Niedersachsen schickt als zweitgrößter Landesverband hinter NRW 81 Delegierte nach Bonn.
Pistorius: „Irrtum zu glauben, dass sich die SPD nur in der Opposition erneuern kann“
Zum Beispiel Bernd Michallik, Vorsitzender des Kreisverbandes Verden. „Ich bin für die Weiterverhandlung, weil bei den Sondierungen herausgekommen ist, dass soziale Themen im Vordergrund stehen.“ Michallik nennt Rente, Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeitarbeit und die Parität bei den Krankenversicherungsbeiträgen als gewichtige Beispiele.
Von Verbesserungen spricht auch Claus Johannßen, SPD-Kreistagsfraktionschef im Landkreis Cuxhaven. Sein Ja sei also sicher: „Da bin ich ganz pragmatisch.“ Christina Jantz-Hermann aus Schwanewede sieht eine Neuauflage der Groko dagegen kritisch. „Ich bin ehrlich gesagt noch ein bisschen hin- und hergerissen.“ Die ehemalige Bundestagsabgeordnete verweist auf die schlechten Erfahrungen aus der vergangenen Legislaturperiode. „Mir fehlt das Zutrauen, dass das anders werden könnte.“
Den Hauptwiderstand organisieren auch in Niedersachsen die Jusos. „Es fehlt einfach ein großes sozialdemokratisches Zukunftsprojekt“, kritisiert deren Landeschef Jakob Blankenburg. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich die SPD nur in der Opposition erneuern kann“, hält Bundesvorstandsmitglied Pistorius dagegen. „Mir ist es lieber zu regieren, als dies anderen zu überlassen.“
Wichtige Punkte in den Bereichen Bildung, Europa und Rente seien doch im Sinne der SPD ausverhandelt, führt auch der Leiter der Niedersachen-Delegation, Ulrich Watermann aus Hameln, als Pluspunkt ins Feld. Eine Neuwahl lehnt er ab. Sie würde „kein wesentlich anderes Ergebnis“ bringen, und die SPD müsse sich dann fragen, „wofür sie im Wahlkampf eigentlich antreten will“.
Landtagsvizepräsidentin Petra Emmerich-Kopatsch wäre es hingegen lieber gewesen, „wenn nur die Basis und nicht noch ein dazwischengeschalteter Parteitag zu entscheiden hätte“.
Dass ein ablehnendes Votum am Sonntag negative Auswirkungen auf die Große Koalition im Land haben könnte, glauben Spitzengenossen wie Landtagsfraktionschefin Johanne Modder nicht. Dazu sei das Bündnis in Hannover zu stabil. Diese Einschätzung teilt sie mit ihrem CDU-Kollegen Dirk Toepffer. „Unsere Zusammenarbeit ist gut. Das macht richtig Spaß.“