Sie waren jung und sind offenbar vom Weg abgekommen. Binnen weniger Tage wurden zwölf Pottwale in der Nordsee entdeckt, am Freitag zwei auf Wangerooge, am Dienstag zwei vor Helgoland und einer in der Nähe von Büssen. Weitere sechs vor der niederländischen Insel Texel. Auch in der Wesermündung trieb ein totes Tier.
Es trieb am Mittwoch vor dem Leuchtfeuer Eversand in der Außenweser. Alle zwölf Wale mussten sterben. Bislang ist unklar, ob die allesamt männlichen Tiere einer Gruppe angehörten und warum sie sich in die Nordsee verirrt haben. Pottwale können sich nur in tiefen Gewässern orientieren. Sie fallen unter das Washingtoner Artenschutzabkommen und sind europaweit geschützt.
Die beiden Wangerooger Wale wurden am Mittwoch von deutschen und niederländischen Experten untersucht. „Die Tiere befinden sich in einem starken Verwesungszustand. Sie wurden entgast und sind nun bereit für den Abtransport“, erklärt die Sprecherin des Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves), Hiltrud Schrandt. Das Landesamt war von der Nationalparkverwaltung gebeten worden, etwaige Gefahren für die Bevölkerung einzuschätzen. Zeitweise drohten die Tiere durch die starke Bildung von Verwesungsgasen zu bersten. Umweltstaatssekretärin Almut Kottwitz sprach von einem „traurigen Fund“.
Die Wangerooger Wale werden am Donnerstag oder Freitag in den Jade-Weser-Port nach Wilhelmshaven gebracht, in Teile zerlegt und entsorgt. Das Umweltministerium schätzt die Entsorgungskosten auf 80 000 Euro. Ein Skelett soll auf Wunsch von Inselbürgermeister Dirk Lindner präpariert und später im Nationalparkhaus der Insel ausgestellt werden. Die Kosten dafür werden auf 40 000 Euro geschätzt. Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung hatten die an der Ostspitze der Insel angespülten Wale tagelang bewacht, damit ihre Elfenbeinzähne nicht von Trophäenjägern gestohlen werden.
Unterdessen machte sich das Gewässerschutzschiff „Neuwerk“ am Mittwoch auf zu den am Dienstag vor Helgoland gesichteten Pottwalen. Diese trieben bereits tot in in der Nordsee, während die Experten bei den Wangerooger Walen davon ausgehen, dass sie zunächst noch lebend an den Strand gespült wurden. Bislang ist unklar, wie lange die Helgoländer Wale schon tot im Meer treiben. Eine Besatzung des Spezialschiffes soll darüber entscheiden, ob die Kadaver an Land geschleppt werden können oder anderweitig entsorgt werden müssen.
Eine derartige Häufung von verendeten Pottwalen hatte es an der Nordsee noch nicht gegeben. Auch für die am Dienstag auf der niederländischen Insel Texel gestrandeten fünf Wale kam offenbar jede Hilfe zu spät. Die Niederländer hatten in der Nacht zu Mittwoch vergeblich versucht, die Tiere zu retten. Die Aktion musste wegen des schlechten Wetters abgebrochen werden. Am Donnerstag teilte Ecomare, das Naturkundemuseum auf Texel, mit, dass ein sechster toter Wal angespült wurde.
Ein ausgewachsener, männlicher Pottwal kann 20 Meter lang werden. Die auf Wangerooge gestrandeten Tiere waren 12,80 beziehungsweise 11,70 Meter lang. Ihnen wurden Gewebeproben entnommen. Diese werden zurzeit an der Tierärztlichen Hochschule Hannover untersucht, um der Ursache für die Strandung auf den Grund zu gehen. Für Inselbürgermeister Lindner indes war gleich klar: „Die haben sich wohl verschwommen.“
Bereits in den 50er-Jahren war ein Orka auf Wangerooge gestrandet. 1994 wurde ein Pottwal auf Baltrum angeschwemmt. Sein Skelett ist heute in Wilhelmshaven ausgestellt. 1996 strandete ein 16 Meter langer Pottwal auf Norderney. Der Kadaver des 30 Tonnen Kolosses wurde in den Dünen vergraben. 2003 wurde ein Pottwal auf Norderney angespült. Das präparierte Skelett des 15 Meter langen Bullen ist heute im Waloseum in Norddeich zu sehen. Zuletzt war 2012 ein neun Meter langer Mink- oder Zwergwal am Strand von Juist entdeckt worden.
Nach Angaben des Wattenrates kommt es immer wieder vor, dass sich insbesondere junge, männliche Pottwale im Winterhalbjahr auf dem Weg von der Arktis in die Paarungsgebiete am Äquator verirren. Über die tiefe norwegische Rinne gelangen sie in die Nordsee. Im vergleichsweise flachen Wasser finden sie keine Nahrung und verlieren die Orientierung. Pottwale ernähren sich hauptsächlich von Tintenfischen.

Ein Spezialschiff ist auf dem Weg zu den beiden Pottwalen vor Helgoland.
Wale verlieren die Orientierung
Michael Dähne ist Experte für Meeressäugetiere am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund. Als Biologe beschäftigt er sich mit Walen. Als Ingenieur untersucht er den Einfluss des Menschen auf die Meeressäuger. Silke Looden sprach mit ihm über die Pottwale in der Nordsee.
Wie kann es sein, dass sich die Meeressäuger in die Nordsee verirren?
Michael Dähne: Es kommt immer wieder vor, dass sich Pottwale in die Nordsee verirren. Eine genaue Ursache dafür kennt niemand. Aber es gibt eine Reihe von Theorien, eine wahrscheinliche ist, dass sie auf ihren Routen von Norden nach Süden vor Schottland nach Osten statt nach Westen wandern und dann nicht mehr aus der Nordsee herausfinden.
Warum können sich die Ozeanriesen in der flachen Nordsee nicht orientieren?
Pottwale sind an ein Leben zwischen den Extremen gewöhnt. In großen Tiefen von 1000 Metern erbeuten sie ihre Nahrung, an der Oberfläche müssen sie atmen, weil es ja Säugetiere sind. Darauf ist ihr Echoortungssystem ausgelegt. Sie müssen weit entfernte Beutetiere gut wahrnehmen können. Entsprechend laut ist ihre Schallquelle. Das funktioniert in großen Tiefen, aber nicht im flachen Wasser der Nordsee.
Können Offshore-Windkraftanlagen die Wale vom Weg abgebracht haben?
Die Tiere sind schon im falschen Gebiet, wenn sie in der Nordsee sind. Die meisten Offshore-Anlagen stehen aber innerhalb der Nordsee. Es ist also nicht wahrscheinlich, dass sie durch die Offshore-Windkraftanlagen vom Weg abgekommen sind. Es kann aber sein, dass seismische Erkundungsschiffe, die sehr laute Knalle zur Erkundung der Geologie des Meeresbodens nutzen, die Tiere stören oder gar ihr Gehör schädigen.
Warum sind es vor allem junge, männliche Tiere, die die Orientierung verlieren?
Darüber lässt sich nur spekulieren. Junge Bullen legen oft weite Strecken zurück und können zum Beispiel durch Unerfahrenheit vom Weg abkommen.
Ist es möglich, dass alle neun Tiere zu einer Gruppe gehörten?
Möglich. Wenn man an allen Tieren genetische Untersuchungen vornehmen würde, könnte man eventuell Übereinstimmungen feststellen. Aber junge Bullen, die sich zu einer Walschule zusammenfinden, müssen nicht unbedingt zur gleichen Familie gehören.
Lassen sich Walstrandungen verhindern?
Wenn die Strandungen der Wale natürliche Ursachen haben, können wir sehr wahrscheinlich nichts dagegen tun.