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Justiz fällt immer mehr Todesurteile / Wahlen lassen auf sich warten / Al-Sisi gibt sich als Garant von Stabilität Ägypten von Demokratie weit entfernt

Kairo. Es war nicht anders zu erwarten. Die endgültige Urteilsverkündung im Prozess gegen den gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi wurde um zwei Wochen verschoben, denn heute fährt sein Nachfolger nach Deutschland.
03.06.2015, 00:00 Uhr
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Von Birgit Svensson

Es war nicht anders zu erwarten. Die endgültige Urteilsverkündung im Prozess gegen den gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi wurde um zwei Wochen verschoben, denn heute fährt sein Nachfolger nach Deutschland. Da stünde es nicht gut an, wenn Abdel Fattah al-Sisi ein Todesurteil gegen seinen Vorgänger im Gepäck hätte. Und so nahmen die Richter kurzerhand Rücksicht auf die politische Agenda.

Einmal mehr ist dies der Beweis, dass von einer „unabhängigen Justiz“, wie Al-Sisi immer wieder behauptet, in Ägypten mitnichten die Rede sein kann. Über hundert Todesurteile wurden in den letzten Monaten in Massenprozessen gefällt. Die Urteilsbegründungen ließen jegliches Maß an juristischer Sorgfalt vermissen. Zeugenaussagen blieben unberücksichtigt, Angeklagte ohne juristischen Beistand. Tausende Muslimbrüder, Revolutionsaktivisten, Journalisten und andere Oppositionelle sitzen hinter Gittern.

Die Justiz macht immer öfter von einem neuen Gesetz Gebrauch, das ein Demonstrations- und Versammlungsverbot beinhaltet und kurz vor Amtsantritt Al-Sisis noch schnell von der Interimsregierung verabschiedet wurde. Der vormalige Feldmarschall sollte unbefleckt Ägyptens neuer Präsident werden. Sein Land sei auf dem Weg der Demokratie, versprach dieser vor einem Jahr, als er seinen Amtseid schwor. Das Gegenteil ist seither der Fall.

Strenge Autokratie

Mit dem Argument der Terrorbekämpfung werden Haft, Folter und Morde an Oppositionellen in den Geheimverließen der Staatssicherheit legitimiert und westliche Regierungen geködert. Al-Sisi dient sich als Garant von Stabilität und Sicherheit in der Region an und zeigt mit dem Finger auf Libyen, Syrien und den Irak als Horrorszenarien. Sein Motto, eine strenge Autokratie ist allemal besser als eine chaotische Demokratie, scheint anzukommen.

Ursprünglich wollte Berlin erst wieder mit Kairo reden, wenn der demokratische Prozess vorankommt und Parlamentswahlen abgehalten werden. Ägypten ist seit über 1000 Tagen ohne Volksvertretung, Wahlen wurden immer wieder verschoben und inzwischen redet niemand mehr davon. Al-Sisi wird trotzdem nach Deutschland eingeladen und erfährt damit eine enorme Aufwertung seiner Person. Der Besuch in Berlin macht ihn hoffähig im Westen. Auch Mursi war zu Besuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, der man allerdings sichtlich anmerkte, wie unwohl ihr dabei zumute war. Damals galt das Argument, er sei das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt Ägyptens. Heute fällt das Wort Demokratie nicht mehr, wenn von Ägypten die Rede ist.

Sollte der Al-Sisi-Besuch jedoch eine Lösung im Dauerstreit um die deutschen politischen Stiftungen und NGOs bringen, so wären die beiden Tage dann doch nicht umsonst. Die Verurteilung zweier Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) durch ägyptische Gerichte vor zwei Jahren wiegt schwer. Ihnen wurde vorgeworfen, nicht zugelassene Zweigstellen errichtet und diese aus dem Ausland finanziert zu haben. Prozessbeobachter aber sind sich einig: Das Verfahren war politisch motiviert. Der damals regierende Militärrat beschuldigte mit dem Urteil die Deutschen, die Revolutionsbewegung in Ägypten unterstützt zu haben. Seitdem ist das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung geschlossen und die anderen Stiftungen halten sich bedeckt, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Ein neues NGO-Gesetz schreibt nun vor, dass jede finanzielle Unterstützung aus dem Ausland staatlich genehmigt werden muss. Das bedeutet das Aus für viele zivilgesellschaftliche Gruppen, die jahrelang mit ausländischen Partnern zusammengearbeitet haben.

Nach dem Ausbruch der Revolution sahen sich die Gerichte einer Flut von Anzeigen ihrer Bürger ausgesetzt, der sie nicht Herr wurden. Plötzlich klagten Ahmed und Mohammed gegen ihren Staat. Was früher in dem autoritären Regime undenkbar war, setzte nach dem Februar 2011 ein, nachdem Langzeitherrscher Mubarak weg war. Ehemalige Minister wurden angezeigt, Regierungsmitglieder, Berater, einflussreiche Geschäftsmänner, Parteimitglieder und deren Angehörige, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter. Die Vorwürfe waren meist dieselben: Korruption, Amtsmissbrauch, Vetternwirtschaft, Vorteilsnahme, Ausübung von Gewalt.

Westliche NGOs unter Druck

Der ehemalige Postminister Christian Schwarz-Schilling wollte helfen. Durch Schiedsverfahren sollten die Richter entlastet werden. Christina Stenner, die schon Erfahrung in Gerichtsmediation auf dem Balkan gesammelt hatte, machte mit. Mit 18 Richtern des Staatsrates startete CSSP (Berlin Center for Integrative Mediation) sein Programm, das vom Auswärtigen Amt in Berlin finanziert wurde. Stenner organisierte Runde Tische in der obersten Etage des Gerichtsgebäudes und hörte viel zu. Das angestrebte Ziel ihrer Arbeit war, die Entscheidungsmacht vom Richter weg zu den streitenden Parteien zu verlagern. In Gesprächen sollte eine Lösung gefunden werden, so dass es gar nicht erst zu einem langwierigen Verfahren komme. Ein Schiedsgericht sollte gegründet werden, um Delikte unter 50 000 Euro selbst lösen können.

„Unter Mursi schritt das Projekt schnell voran“, berichtet die 36-jährige Berlinerin im Rückblick. „Danach brach alles zusammen, und die Teilnehmer wurden unter Druck gesetzt, nicht mehr mit ausländischen NGOs zusammenzuarbeiten.“ Für Christina Stenner und ihr Team setzte Ernüchterung ein. „Vertrauen aufzubauen, geschieht in Ägypten über Personen, nicht über Institutionen“, sagt sie kenntnisreich. Doch es sind die Institutionen, die jetzt im Visier staatlicher Willkür stehen. „Im Moment wissen wir nicht, wo wir andocken sollen“, lautet ihr Fazit. Dass viele Ägypter den Kurs Al-Sisis mittragen, ist für die Gerichtsmediatorin ein Beweis dafür, dass „Freiheit und Demokratie für die Nilbewohner anstrengend sind – zu anstrengend.“

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