Berlin. Das Interview ist in der AfD eingeschlagen wie eine Bombe. Am Mittwoch wurde es auf dem nationalkonservativen Blog „Tichys Einblick“ veröffentlicht und sofort rasant in den unzähligen AfD-Chatgruppen geteilt. Einige hielten es zunächst für einen Aprilscherz. Denn Parteichef Jörg Meuthen hatte in dem Interview ein Art Tabu innerhalb der AfD gebrochen – und die Spaltung der Partei ins Spiel gebracht.
Die Eskalation ist der vorläufige Höhepunkt der Turbulenzen, in die die AfD geraten ist, nachdem der Verfassungsschutz die Beobachtung des rechtsextremen „Flügels“ in der AfD verkündet hat. Der Ausgang ist völlig offen.
Meuthen regte eine Debatte über eine „einvernehmliche Trennung“ an. Er glaubt offenbar, eine AfD ohne „Flügel“ könne erfolgreicher sein. Aber in der Partei fragen sich viele, ob sich Meuthen nach diesem Vorstoß überhaupt an der Spitze wird halten können. Sein Ko-Chef Tino Chrupalla verkündete bereits, er sei „menschlich enttäuscht“ von seinem Kollegen. Anhänger des „Flügels“ fordern jetzt offen Meuthens Rücktritt.
Was ist da passiert? Nach der Entscheidung des Verfassungsschutzes fasste die AfD-Spitze vor zwei Wochen den Beschluss: Der „Flügel“ um Galionsfigur Björn Höcke und Strippenzieher Andreas Kalbitz soll sich selbst auflösen – und zwar bis Ende April. Im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sprach Meuthen davon, die Strukturen des „Flügels“ zu zerschlagen – eine Rhetorik, die im „Flügel“ für Empörung sorgte. Nach einigem Hin und Her setzten Höcke und Kalbitz ihre Anhänger schließlich darüber in Kenntnis, dass der „Flügel“ seine Aktivitäten einstellt. Doch in der Partei ist vielen klar, dass es dabei vor allem um das Label geht – das einflussreiche Netzwerk dahinter bleibt.
Einheit der Partei beschworen
Anfang dieser Woche – so erzählt man es in der AfD – bekam der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland dann mit, dass Meuthen über eine Spaltung nachdenkt. Gauland, Fraktionschefin Alice Weidel und Parteichef Chrupalla unterzeichneten eine Erklärung, in der sie die Einheit der Partei beschwören. „Es gibt nur eine AfD“, heißt es darin. Es ist ein Friedensangebot an die „Flügel“-Leute.
Meuthens Interview wurde einen Tag später veröffentlicht. Darin sinniert er über Spaltung. Dabei führt er aber nicht den Extremismus des „Flügels“ ins Feld. Meuthen argumentiert, die AfD bestehe im Grunde aus zwei Parteien. Einerseits aus einer „freiheitlich-konservativen“ Strömung, zu der er sich selbst zählt. Und auf der anderen Seite aus dem „Flügel“, dessen Anhängerschaft „dem freien Markt und Unternehmertum grundlegend misstraut, einen kollektivistischen Gesellschaftsansatz verfolgt und in den Bereich des Sozialismus hineinreichenden Lösungsansätzen durchaus wohlgesonnen gegenübersteht". In einer Wirtschaftskrise nach Corona hätten die beiden Lager, so glaubt Meuthen, grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese überwunden werden soll.
In der Tat gibt es in der AfD diese Spaltung in Wirtschafts- und Sozialfragen. Dass dies in einer Wirtschaftskrise in der Partei zu starken Verwerfungen führen könnte, ist insofern naheliegend, als dass in der AfD bereits bis aufs Blut über ein Rentenkonzept gestritten wurde.
Dass jemand aus der Führungsspitze aber so explizit von Spaltung redet – das ist seit dem Abgang von Ex-Parteichefin Frauke Petry nicht mehr vorgekommen. Für Kopfschütteln sorgt, dass Meuthen seine Überlegungen öffentlich teilte und vorher mit niemandem absprach. Entsprechend fallen die Reaktionen aus. Höcke bezeichnete den Vorstoß als „töricht und verantwortungslos“. Ko-Parteichef Chrupalla ließ wissen: „Die Einheit der Partei stand nie zu Debatte, und sie wird auch nie zur Debatte stehen.“ Der Ehrenvorsitzende Gauland rügte: „Die Überlegungen von Jörg Meuthen sind wenig zielführend und extrem unpolitisch.“ Und Fraktionschefin Weidel sagte, sie halte Meuthens Idee für „vollkommen verfehlt“. Die AfD würde sich bei einer Teilung selbst kannibalisieren.
Auch an der Basis brodelt es. Einer, der Meuthen eigentlich wohlgesonnen ist, spricht von „politischem Selbstmord". Andere bezeichnen Meuthen als „Wendehals“, der früher noch mit dem „Flügel“ paktierte und ihn jetzt loswerden will. Meuthen wird auch vorgehalten, dass er 2019 eine mögliche Teilung der AfD noch als „Schnapsidee“ bezeichnete. „Es gibt nur eine AfD, und die lässt sich nicht teilen“, erklärte er damals. Das alte Zitat kursiert jetzt wieder in den AfD-Chatgruppen.
Doch trotz aller Kritik bleibt Meuthen bei seiner Idee, die AfD solle über eine Teilung nachdenken. Die Partei solle bis zum Jahresende zu einer Entscheidung kommen.
Nun ist die Frage: Setzt Meuthen sich durch? Oder wird er am Ende als Parteichef abgesägt? Eine Reihe von AfD-Mitgliedern, die sich als „aufrecht“ bezeichnen, fordert schon seit einigen Tagen seinen Rücktritt auf einer eigens eingerichteten Internetseite. Der AfD-Sozialpolitiker und eingefleischte „Flügel“-Mann Jürgen Pohl bezeichnete Meuthens „Spaltungsphantasien“ als „parteischädigend“. „Jetzt sollte er auch die damit verbundenen persönlichen Konsequenzen ziehen und seinen Amtsvorgängern folgen.“ Gemeint sind die ehemaligen AfD-Chefs Bernd Lucke und Frauke Petry, die beide die AfD verlassen haben.
Ein Parteistratege glaubt, dass es Meuthen vor allem gefährlich werden könnte, dass Gauland sich gegen ihn positioniert hat. „Gauland ist nach wie vor unangefochten und gibt den Ton in der Partei an.“ Positiv für Meuthen ist allerdings: Wegen der Corona-Beschränkungen ist ein Parteitag, auf dem er abgewählt werden könnte, nicht in Sicht.