Man kann sich leicht ausmalen, wie oft Wolodymyr Selenskyj in den vergangenen Tagen dieselbe Frage an die westlichen Partner stellte: „Können Sie sich vorstellen, wir haben eine Waffenruhe“, so würde der ukrainische Präsident beginnen. Alle wären glücklich. „Und dann kommt Putin zurück in zwei Monaten, sechs Monaten, einem oder in zwei Jahren – wer wird verlieren?“ Selenskyj hält einen Moment inne, als er am Donnerstagnachmittag in Brüssel gegenüber der Presse die Gespräche wiedergibt, die er nach eigenen Angaben immer wieder mit Spitzenpolitikern führt. Seine Antwort lautet stets: „Jeder wird verlieren.“
Stattdessen forderte Selenskyj „einen wirklichen Plan“. Doch auf den scheint er auch nach dem EU-Gipfel am Donnerstag warten zu müssen. Zum letzten Mal in diesem Jahr trafen sich die 27 Staats- und Regierungschefs. Immerhin für einen Moment kamen sie dabei auch zum Feiern. Vor fast exakt 50 Jahren jubelte der damalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d‘Estaing: „Lang lebe der Europäische Rat.“ Die Mitgliedsländer der Gemeinschaft wollten sich fortan regelmäßig abstimmen bei den „externen Problemen, mit denen Europa konfrontiert ist“.
Ein Video würdigte das Jubiläum, das die Union und ihre Geschichte in einer Minute und 29 Sekunden auf Hochglanz poliert inszenierte. Ein halbes Jahrhundert später lässt niemand mehr Gipfeltreffen hochleben, trotzdem posierten die Staatenlenker – erstmals auf Einladung des neuen Ratspräsidenten António Costa – mit guter Miene für ein Familienfoto. Dabei standen so viele „externe Probleme“ auf der Agenda wie selten zuvor. Wie will die EU die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegenüber Russland weiter unterstützen? Wie soll die Gemeinschaft mit den neuen Machthabern in Syrien umgehen? Wie ihre Handelspolitik ausrichten, wie die Migration begrenzen? Welche Rolle spielt Europa in der Welt?
Über allen Diskussionen über die Krisen und Kriege dieser Zeit schwebte das Damoklesschwert namens Donald Trump. Die Rückkehr des EU-Kritikers und selbst erklärten Fans von Strafzöllen ins Weiße Haus in gut einem Monat macht die EU-Staats- und Regierungschefs nervös. Selenskyj dagegen antwortete auf die Frage, mit welchen Gefühlen er einer zweiten Amtszeit von Trump gegenübersteht: „Willkommen Donald.“ Der Ukrainer wünsche sich sehr, „dass Trump uns hilft und diesen Krieg beendet“. Er appellierte an die „Einheit zwischen der EU und den USA“. Nur gemeinsam könne man „Putin wirklich stoppen und die Ukraine retten“.
Angesichts der schwierigen militärischen Lage an der Front war er abermals in die belgische Hauptstadt gereist. Seine Sorge ist groß, dass die Unterstützung aus dem Westen abebben könnte. Zwar bestand Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) darauf, diese „dauerhaft“ abzusichern. Und auch in ihrer Abschlusserklärung versprach die EU dem kriegsgeplagten Land den Schutz des Energiesektors sowie mehr Flugabwehrsysteme, Artilleriemunition und Marschflugkörper. Doch reichen die Waffen der Europäer aus, falls Trump seine Drohung wahr macht, die Hilfen zu verringern? Der Republikaner drängt darüber hinaus auf eine Waffenruhe und Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew. Gespräche könnten jedoch nur dann stattfinden, wenn Klarheit über den Tag danach bestehe, sagte Selenskyj, „sonst friert man den Konflikt einfach ein“.
Noch ringen die Europäer um eine einheitliche Linie, wie sie konkret auf die Ungewissheit reagieren sollen, die ein Donald Trump im Weißen Haus darstellt. Scholz warnte, es dürfe keine Entscheidung geben „über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg“. Man müsse „immer in der richtigen Reihenfolge vorgehen“, so der SPD-Mann. „Und die richtige Reihenfolge ist, dass die Ukraine zuerst für sich selbst definieren muss“, was ihre Ziele in Bezug auf einen Frieden seien, „der kein Diktatfrieden ist“.
Der luxemburgische Regierungschef Luc Frieden sagte: „Die Zukunft der Ukraine entscheidet sich nicht in Washington.“ Obwohl die Europäer wissen, dass es in der Ukraine ohne Amerika keine Sicherheit geben kann, war es die gebetsmühlenhaft vorgetragene Botschaft, sowohl öffentlich als auch hinter den Kulissen: Jede Vereinbarung zur Beendigung des Krieges könne demnach nur zu den Bedingungen Kiews getroffen werden. Ob sie bis zu Trump durchdringen würde? Ohnehin zeige Russland „keine Bereitschaft zu verhandeln“, sagte der litauische Präsident Gitanas Nausėda. Deshalb sei jedes Gesprächsangebot kontraproduktiv.
Trotzdem war zu vernehmen, dass es in vertraulichen Gesprächen auch um Szenarien nach einer möglichen Waffenruhe und um Sicherheitsgarantien ging. Die Ukraine wolle den Krieg beenden, so Selenskyj. Für einen „stabilen Frieden“ brauche es aber unter anderem Sicherheitsgarantien, wobei europäische nicht ausreichten, da sie von der Nato und damit von den Vereinigten Staaten kommen müssten.
Ein kleiner Kreis von Spitzenvertretern europäischer Staaten hatte sich bereits am Mittwochabend auf Einladung des Nato-Generalsekretärs Mark Rutte mit Selenskyj zum „Brainstorming“ getroffen, wie es ein Diplomat nannte. Laut Rutte müsse man die Ukraine in „eine Position der Stärke“ versetzen. Diskussionen, ob europäische Friedenstruppen an einem zukünftigen Abkommen beteiligt sein würden, seien dagegen verfrüht, so der Generalsekretär.