Als die 27 EU-Innenminister das letzte Mal zu einem Krisentreffen zusammenkamen, waren rund 250.000 Menschen aus der Ukraine in die EU geflüchtet. Gut vier Wochen später ist die Lage dramatisch, über die die Politiker während ihrer Sondersitzung in Brüssel am Montag berieten. So haben von den mehr als 44 Millionen Ukrainern nach Angaben der Vereinten Nationen wegen Russlands Angriffskriegs bereits mehr als 3,8 Millionen Menschen das Land verlassen.
Sollte die Gewalt weiter andauern, dann rechnet die EU mit acht bis zehn Millionen ukrainischen Hilfesuchenden, die in den nächsten Wochen in Europa aufgenommen werden müssten. Mindestens. Es handelt sich schon jetzt um die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Belastungsgrenzen sind von Tag zu Tag spürbarer, auch wenn mittlerweile laut der zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson nur noch gut 40.000 Menschen pro Tag in der EU ankommen. In der Spitze waren es täglich mehr als 200.000 Ukrainer.
Nun schlug die Brüsseler Behörde einen Zehn-Punkte-Plan vor, mit dem die EU beispielsweise jene besonders von den Flüchtlingsbewegungen betroffenen Staaten finanziell sowie materiell unterstützen will. Johansson hob Polen, aber auch Rumänien, Ungarn, die Slowakei, Österreich, Tschechien, Estland und Litauen hervor, die die Hauptlast bei der Aufnahme schulterten. Allein in Polen fanden bislang mehr als zwei Millionen Flüchtende Schutz, viele von ihnen sind in Wohnungen von Freiwilligen, in Ferienhäusern oder Gästezimmern untergebracht.
Fester Verteilschlüssel nur Randthema
Während die Regierung in Warschau vor allem mehr Geld von Brüssel fordert, ist von Umsiedlungen wenig die Rede. Dementsprechend war die Frage nach einem festen Verteilschlüssel gestern nur am Rande ein Thema. Die EU setzt auf Freiwilligkeit. Johansson plädierte für einen Index, der das Prozedere vereinfachen soll. Hinter dem Plan der Brüsseler Behörde verbirgt sich die Hoffnung, dass EU-Staaten, die Kapazitäten haben, überlasteten Ländern die Aufnahme von Flüchtlingen anbieten werden.
Außerdem diskutierten die Innenminister, wie man der Republik Moldau angesichts der hohen Flüchtlingszahlen unter die Arme greifen und ein gemeinsames System zur Registrierung der Ukraine-Flüchtlinge einrichten kann. Das soll auch dem Schutz von allein reisenden Frauen und unbegleiteten Kindern vor Missbrauch und Menschenhandel dienen. Daneben besprachen die Politiker die Koordination der Weiterreise nach der Ankunft in einem EU-Land in ein anderes.
Hinter den Kulissen hieß es gestern, dass Deutschland, wo bislang rund 267.000 Flüchtlinge registriert sind, das einzige Land sei, das einen Verteilschlüssel fordert – wenn auch die Wünsche plötzlich nicht mehr so offen geäußert werden wie noch zuletzt. Feste Quoten seien nicht ihr Ziel, ruderte Bundesinnenministerin Nancy Faeser von vergangenen Äußerungen zurück. Vielmehr gehe es um „ein solidarisches Verteilsystem“.
Seit Jahren sorgt die europäische Asyl- und Migrationspolitik für heftigen Streit zwischen den Partnern. Größter Zankapfel ist die solidarische Aufteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten, insbesondere Polen und Ungarn sträuben sich vehement gegen verpflichtende Quoten. Gab es in Berlin nun einen Sinneswandel? Oder darf die vorsichtige Äußerung von Faeser eher als Eingeständnis verstanden werden, dass sich im Kreis der 27 Mitgliedstaaten derzeit keine Mehrheit für einen festen Verteilschlüssel abzeichnet? Der SPD-Politikerin zufolge sei innerhalb der EU-Staaten Solidarität erreicht worden. Auf diesem Erreichten wolle man aufbauen und andere Länder nicht verschrecken.
"Aktuelles System funktioniert"
Das aktuelle System funktioniere für den Moment, betonte auch ein Diplomat aus den Niederlanden. „Wir halten nichts von Quoten; es geht darum, den Menschen zu helfen“, sagte der österreichische Innenminister Gerhard Karner.
Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine will die EU Geschlossenheit präsentieren und europäische Solidarität beschwören, da passt die Kontroverse um Quoten nicht ins Bild. Dass sich ein Verteilschlüssel in der aktuellen Situation nicht eigne, liege laut Diplomaten auch an der Tatsache, dass die Mehrheit der Ukrainer „nahe ihrer Heimat“ bleiben wollten – und deshalb eher Schutz in Polen suchten. Die Idee der EU sei es nicht, die Menschen zu zwingen, in einen anderen Staat zu reisen.