Es ist 23 Uhr Ostküstenzeit an diesem schicksalsträchtigen Wahlabend in den USA: Im blauen Anzug und der Krawatte im schrillen Republikaner-Rot tritt der Kandidat vor die Fernsehkameras und erklärt, der Wahlsieger stehe fest. Er heiße Donald Trump. Eine krude Verschwörungstheorie? Keinesfalls. Es ist ein realistisches Szenario, wie viele Experten meinen. Trump baue auf diese Weise vor, um das Wahlergebnis erneut anzufechten.
Der Zeitpunkt der erwarteten „Siegesrede“ hat mit den Besonderheiten des amerikanischen Wahlrechts und der Auszählung der Stimmen in Echtzeit zu tun. Zu diesem Zeitpunkt könnte Trump tatsächlich vorn liegen, weil die Stimmen aus seinen ländlichen Hochburgen in der Regel zuerst vorliegen. Die Wahlergebnisse aus den Metropolen und umkämpften Vorstädten, in denen die Demokraten und Harris die Nase vorn haben, sind zu diesem Zeitpunkt nur zum Teil ausgezählt. Um 23 Uhr an diesem Wahlabend steht bei einem insgesamt knappen Rennen vermutlich gar nichts fest.
„It’s too early to call“ – es ist zu früh, um einen Sieger auszurufen, heißt die einschlägige Formel in den USA. Bis ein gesichertes Ergebnis aus sieben umstrittenen „Battleground“- Staaten vorliegt, können Tage, wenn nicht Wochen vergehen.
An der Ostküste wird gezählt, an der Westküste noch gewählt
Das liegt an der Größe des Landes. Am komplizierten amerikanischen Wahlrecht, das in jedem Bundesstaat anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Es liegt auch an fehlenden datengestützten Prognosen und Hochrechnungen, die es in den USA allein schon deshalb nicht gibt, weil die Wahllokale in diesem Flächenstaat mit vier Zeitzonen zu ganz unterschiedlichen Zeiten schließen: Wenn an der Ostküste gezählt wird, gehen die Bürger an der Westküste noch wählen.

So sehen Umfragen die Ergebnisse der US-Wahl.
Hinzu kommen die neuen Regeln und Bestimmungen, die nach dem Chaos des Jahres 2020 eingeführt wurden. Trump hatte damals behauptet, der Wahlsieg Joe Bidens sei das Ergebnis eines von Demokraten inszenierten systematischen Wahlbetrugs gewesen. Trump hält bis heute an der „großen Wahl-Lüge“ fest, obwohl Anfechtungen in 60 von 61 Fällen vor Gericht scheiterten.
Selbst in Bundesstaaten, in denen die Stimmzettel relativ schnell ausgezählt werden, kann es Tage dauern, bis ein Gewinner ermittelt wird. Zum Beispiel in Pennsylvania: Der Industriestaat gilt als der wichtigste aller Swing States, weil er 19 Wahlleute in das sogenannte Wahlleutekollegium schickt – so viel wie kein anderer Wechselwählerstaat. Ausgestattet mit neuer Technik und viel mehr Personal versuchen die Wahlleiter, möglichst schnell ein Ergebnis vermelden zu können. Dennoch wird sich das hinziehen, weil die Wahlhelfer erst am Wahltag mit der Auszählung der Briefwahl beginnen dürfen. Ohne Pennsylvania gibt es kaum einen Weg, die erforderliche Mehrheit von 270 Stimmen der sogenannten Wahlleute zu gewinnen.
Wisconsin und Michigan wollen früh melden
Zumindest Wisconsin und Michigan, die beiden weiteren Staaten der demokratischen „blauen Mauer“, wollen den Sieger noch am Wahlabend verkünden. Anders Arizona, Nevada und Georgia, die Staaten im amerikanischen „Sunbelt“. Georgia benötigte 2020 zwei Wochen, ehe Biden als Sieger feststand. Der Südstaat dominierte wochenlang die Schlagzeilen, weil Trump vom dortigen Wahlleiter verlangt hatte, das Wahlergebnis zu fälschen. Das trug ihm ein Gerichtsverfahren ein, das bis heute anhängig ist.
In allen umkämpften Bundesstaaten veränderten sich die Umfragewerte für beide Kandidaten praktisch nicht mehr. Die Abschlusserhebungen der „New York Times“ sehen Harris in Georgia, North Carolina und Nevada zulegen und in der „blauen Mauer“ im Norden abgeben. Das Marist-Institut hingegen sieht Harris in Michigan und Wisconsin und in Pennsylvania zulegen und knapp vorn liegen. Gänzlich überraschend ist eine Umfrage des renommierten Des Moines Registers aus Iowa, wonach Harris in dem konservativen Farmerstaat mit drei Punkten (47 zu 44 Prozent) vor Trump liegt.
Die Frist bis zur Zertifizierung der Stimmen am 6. Januar und der feierlichen Inauguration am 20. Januar gilt nach Einschätzung vieler Experten als eine Zeit der politischen Unsicherheit Es wird erwartet, dass Trump im Fall einer Niederlage versuchen wird, das Wahlergebnisse anzufechten und Unruhe zu stiften – die „Große Lüge 2.0“. Das Vertrauen in den Wahlprozess und das politische System soll so untergraben werden. Eine voreilige Siegesrede in der Wahlnacht wäre das Fanal.