Man kommt kaum noch hinterher. Wo in Mexiko war das jüngste Massaker, welche Kartelle waren beteiligt? Wie viele Menschen sind wieder gestorben? Welchen Bundesstaat hat es jetzt erwischt? Die täglichen Schreckensnachrichten überschlagen sich.
Aus Protest gegen das Nichtstun der staatlichen Sicherheitskräfte besetzten Ende Juli rund 3000 Einwohner von Pantelhó die Straßen und das Bürgermeisteramt der Ortschaft in den Bergen von Chiapas im Süden des Landes. Seit Anfang des Monats drohen, morden und plündern bewaffnete Gruppen vor allem in den indigenen Gemeinden in dem Bundesstaat an der Grenze zu Guatemala wie nie zuvor. Immer mehr Menschen werden aus ihren angestammten Gebieten vertrieben.
Es geht, wie so oft, um den illegalen Handel mit Drogen, Waffen und Menschen. Und wer die Missstände öffentlich macht und Hilfe des Staats fordert, wird ermordet, wie der Menschenrechtsaktivist Simón Pérez. Er wurde Anfang des Monats auf dem Weg zum Einkauf mit einem Kopfschuss getötet.
Es gibt mittlerweile kaum noch eine Ecke in dem zweitgrößten Land Lateinamerikas, in der man dem Terror entkommt. Längst ist es nicht nur die Nordgrenze, wo die Mafias regieren. Ganz Mexiko ist – mehr oder minder – Kriegsgebiet. Das Land erlebt die brutalste Etappe seiner Geschichte. 100 Morde pro Tag, von denen 90 nicht aufgeklärt werden, mehr als 36.000 Mode im vergangenen Jahr weist die Statistikbehörde Inegi aus. Und schon jetzt zeichnet sich ab: 2021 dürfte noch blutiger werden. „Wir durchleben gerade ein kollektives Trauma“, sagt die Psychologin Cecilia López, Professorin an der autonomen Universität von Tlaxcala. Mexiko sei ein „in Teilen gekaperter Staat“, meint der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia.
Die schrecklichen Szenen und Zahlen passen eher zu einem Land wie Syrien als zu einem G-20-Staat. Mexiko ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Region und eine der größten Demokratien der Welt. Aber die Mexikaner sind nicht nur der Organisierten Kriminalität ausgeliefert, sondern vor allem einem Staat, der unfähig oder unwillig ist und oft genug mit den Kartellen gemeinsame Sache macht. Und der linksnationalistische Präsident Andrés Manuel López Obrador behauptet von der Kanzel seiner täglichen Pressekonferenzen ungeniert: „Das Land ist befriedet“.
Schauplatz von Massakern
Man sollte mal die Menschen in Chiapas fragen, was sie von einem solchen Satz halten. Oder die in den nördlichen Bundesstaaten Zacatecas oder Tamaulipas. Beide Staaten sind in den vergangenen Wochen Schauplatz von Massakern geworden. In Reynosa, Tamaulipas marschierten Mitte Juni bewaffnete Männer am helllichten Tag über eine Hauptstraße und streckten wahllos Menschen nieder: Arbeiter, Studenten, Familien. 35 Opfer waren zu beklagen. Grund der blutigen Wüterei: Einschüchterung des konkurrierenden Kartells, Herausforderung des Staates. „Calentar la plaza“ wird das genannt – den „Platz aufheizen“.
Der Terror breitet sich in Mexiko immer weiter aus. Das Organisierte Verbrechen greift wie eine Krake nach dem ganzen Land. Das klassische „Sinaloa-Kartell“, früher geführt von Joaquín „El Chapo“ Guzmán, muss sich an immer mehr Orten der Konkurrenz des „Kartell Jalisco Neue Generation“ erwehren. Diese äußerst blutrünstige Mafia macht dem Sinaloa-Syndikat Routen, Reviere und Reichweiten streitig. Es gibt kaum noch Gebiete, kaum noch Geschäftszweige, die frei von Kriminellen sind.
Die Regierungen der früheren Jahre haben die Verbrecher lange gewähren lassen oder waren mit ihnen verbündet. Die Staatschefs Felipe Calderón (2006 bis 2012) und Enrique Peña Nieto (2012 bis 2018) erklärten den Kartellen den Krieg. Es wurde nur noch schlimmer statt besser.
Nachfolger López Obrador wollte alles anders und besser machen, hat aber nichts erreicht. Er wollte mit „Abrazos, no balazos“, mit Umarmungen statt Kugeln, die Kartelle besiegen. Das war töricht, naiv und gefährlich. Das Organisierte Verbrechen ist stärker denn je. Das sind neue Dimensionen, die für Mexiko nichts Gutes ahnen lassen.