Es kommt eher selten vor, dass Ursula von der Leyen vor einem Treffen mit anderen Spitzenpolitikern die Befürchtung plagt, sie könnte nicht ausreichend vorbereitet sein. Zu sehr arbeitet sich die EU-Kommissionspräsidentin für gewöhnlich in Themen ein. Doch während Portugals Ratspräsidentschaft 2021 schaute sie vor den regelmäßigen Zusammenkünften mit António Costa dann doch lieber nochmals in die Dokumente. Denn der damalige Ministerpräsident, so heißt es heute noch in Brüssel, „kannte jede Akte im Detail“ und wusste stets, wo oder besser wegen wem es bei den Verhandlungen hakte. Die damals geknüpfte enge Beziehung zwischen der Deutschen und dem Portugiesen könnte bald schon wiederaufleben. Denn nicht nur von der Leyen steht als Kandidatin der christdemokratischen EVP vor einer weiteren Nominierung für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin. António Costa hat auch beste Aussichten, der nächste Präsident des Europäischen Rates, also des Gremiums der 27 EU-Länder, zu werden. Der 62-jährige Sozialist hätte damit sein Ziel eines europäischen Topjobs erreicht.
Ereignisreicher 7. November
Dabei sah es noch vor einigen Monaten so aus, als ob Costas politische Karriere zu Ende wäre. Sein bisheriger Tiefpunkt trägt den Namen „Operation Influencer“, ein angeblicher Korruptionsskandal, der mitten ins Herz der Macht reichte. So jedenfalls war die Erzählung damals. In einer groß angelegten Aktion Anfang November durchsuchten Staatsanwälte und Polizisten Ministerien, Rathäuser, Firmen und Privatwohnungen – und den Palacete de São Bento, die offizielle Residenz des portugiesischen Ministerpräsidenten in Lissabon. Hohe Beamte wurden angeklagt, fünf Personen verhaftet, darunter auch Costas Bürochef Vítor Escária. Dieser ereignisreiche 7. November endete damit, dass Costa seinen Rücktritt verkündete. Und das, obwohl er erst 2022 überraschend mit einer absoluten Mehrheit die Wahlen gewonnen hatte.
Der studierte Jurist ist das, was man ein „politisches Biest“ nennt. Schon mit 16 Jahren leitete er die Jugendorganisation des Partido Socialista, sozusagen die portugiesischen Jusos. Bevor er Justizminister wurde, war er Mitglied des Lissaboner Stadtparlaments, des portugiesischen Parlaments und des Europaparlaments. Dann leitete er zunächst als Bürgermeister Lissabons die Geschicke der Stadt, bis er 2015 zum Premierminister ernannt wurde – direkt nach der Schuldenkrise Portugals. Die Wirtschaft wuchs unter ihm stetig, die von der EU auferlegten Sparmaßnahmen kritisierte er öffentlichkeitswirksam.
Dass der erfahrende Stratege noch am selben Tag der Durchsuchungen zurücktrat, obwohl er jegliches Fehlverhalten abstritt und bis heute abstreitet, wurde im Nachgang als mutiger Zug gelobt. Tatsächlich wurde Costa nie eines Verbrechens angeklagt. Mehr noch: Um mögliche Zweifler in Brüssel zu versichern, ließ er sich vor einigen Wochen per Eilantrag bescheinigen, dass nichts gegen ihn vorliege. Vielmehr gab die Staatsanwaltschaft schwerwiegende Ermittlungsfehler zu. So stützten sich ihre Vorwürfe gegen Costa auf abgehörte Telefongespräche, in denen der Nachname Costa fiel. Nur ist dieser das portugiesische Pendant zum deutschen Müller. Die Annahme, der Politiker sei gemeint, erwies sich letztlich als Trugschluss. Er ist rehabilitiert. Und könnte nun den zweitwichtigsten Posten der EU bekommen, unterstützt nicht nur von Verbündeten der eigenen sozialistischen Parteienfamilie S&D wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), sondern auch vom Konservativen Luís Montenegro, seinem Nachfolger im Amt des Premiers. Patriotismus sticht am Ende politische Differenzen, das gilt auch in Portugal.
"Europas Chefbürokraten"
Costa ist beliebt für seine freundliche Art. Er gilt zudem als all das, was die Jobbeschreibung eines Ratspräsidenten verlangt: Brückenbauer, pragmatischer Verhandlungsführer, Konsensfinder. Diese Eigenschaften dürften umso wichtiger werden in einem gespaltenen Europa, in dem die extreme Rechte auf dem Vormarsch ist. So gehört es zu Kernkompetenzen von „Europas Chefbürokraten“, wie der ehemalige Ratspräsident Donald Tusk sich einmal nannte, Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und für reibungslose Abläufe bei Gipfel zu sorgen. Dem aktuellen Amtsinhaber Charles Michel schien die koordinierende Rolle zuwider, was immer wieder zu Machtkämpfen zwischen ihm und von der Leyen führte. Es ist kein Geheimnis, dass die beiden sich nicht mögen. Costa dagegen, so die Hoffnung von Beobachtern, soll Partner sein statt Dauerkonkurrent.