Die sogenannte Krisenverordnung ist nicht nur das Wort der Woche in der verordnungsverliebten Brüsseler Blase. Um sie dreht sich auch der Streit, der die Reform des EU-Asylsystems zu Fall bringen oder zumindest weit hinausverzögern könnte. Damit will die Gemeinschaft die irreguläre Migration begrenzen. Doch Deutschland bremst. Die Bundesregierung lehnt diesen Baustein des Pakets, ein Vorschlag der Spanier, die derzeit den Ratsvorsitz innehaben, ab – und gerät deshalb zunehmend unter Druck im Kreis der Mitgliedstaaten.
Laut der aktuell auf dem Tisch liegenden Krisenverordnung stünden den Ländern im Fall einer besonders hohen Zahl von ankommenden Flüchtlingen und Migranten flexible Maßnahmen zur Verfügung. Vor allem die Grünen befürchten unter anderem die Überlastung deutscher Kommunen. „Statt geordneter Verfahren würde insbesondere das große Ermessen, das die aktuelle Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen“, hatte Außenministerin Annalena Baerbock auf „X“, vormals Twitter, geschrieben.
Es mussten seit der Krise 2015 acht Jahre vergehen, bis die Union einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) erstmals zum Greifen nahe kommt. Droht sie jetzt auf den letzten Metern zu scheitern? Am Donnerstag treffen sich die 27 Innenminister in Brüssel. Würde Deutschland dann einlenken? Berlin mangelt es an Verbündeten bei der Frage nach dem Umgang mit Migration. Weil die Bundesrepublik den Vorschlag jedoch ablehnt, kann sich das Gremium der 27 EU-Länder nicht für die Verhandlungen mit dem Europaparlament positionieren – zum Leidwesen der EU-Abgeordneten. „Wieder einmal verwirrt die deutsche Ampelregierung die EU-Partner mit ihrer Vielstimmigkeit“, kritisierte der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU), gegenüber dem WESER-KURIER.
Zeit drängt wegen Europawahl 2024
Im Abgeordnetenhaus scheint man genug von dem Drama zu haben, zumindest fürs Erste. Aus Frust über den Stillstand hatten die EU-Parlamentarier in der vergangenen Woche eine Blockade angekündigt. Dabei setzt sich auch das Hohe Haus Europas aus mehreren Lagern zusammen. Einige wollen das Paket nur in seiner Gesamtheit mit dem Rat besprechen, anstatt schrittweise Kompromisse bei den einzelnen Teilen zu erzielen. Andere würden dagegen trotz der Unstimmigkeit beim Thema Krisenverordnung gerne mit den Verhandlungen beginnen.
Die Zeit drängt: Anfang Juni 2024 finden die Europawahlen statt. Dossiers, die in der aktuellen Legislaturperiode nicht mit den Mitgliedstaaten vereinbart werden, könnten nach der Wahl und mit eventuell veränderten Mehrheiten wieder vom Tisch geräumt oder zumindest infrage gestellt werden. Verzögerungen würde es in jedem Fall geben. Die Projekte müssten deshalb bis Mitte Februar „durch sein“, so ein hochrangiger Brüsseler Beamter, „sonst wird das nichts mehr“.
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Würde es die Gemeinschaft riskieren, ohne Lösung bei einem der drängendsten Probleme in den Europawahlkampf zu ziehen? Migration treibt nicht nur zahlreiche Bürger und Kommunen um, es handelt sich auch um das Kernthema der Rechtspopulisten. „Jede Maßnahme, die die Zahl illegaler Migranten in die EU begrenzt, muss ernsthaft nachverfolgt werden“, sagte CSU-Politiker Weber und äußerte die Hoffnung, „dass die jetzt auch bei der Außenministerin sehr spät entdeckte Sorge über die Auswirkungen des Migrationsdrucks auf die Kommunen zu einem Kurswechsel bei den Verhandlungen in Brüssel führt“.
Erst vor wenigen Wochen unterschrieben die EU und Tunesien ein Abkommen, wonach Tunesien Migranten aus Afrika, die sich in den Häfen des Landes in kleine Boote zwängen, von der Überfahrt nach Europa abhalten soll. Trotzdem steigt die Zahl der Migranten stetig weiter, auf der italienischen Insel Lampedusa herrscht seit Wochen Ausnahmezustand, während sich viele Bürger und Kommunen auch in Deutschland überfordert fühlen.