Mario Draghi machte gute Miene zum bösen Spiel, als er am Donnerstag in die Abgeordnetenkammer kam. Unter teils stehenden Ovationen schüttelte er Hände seiner Kabinettsmitglieder – es hatte alles von einem Abschied. „Manchmal kommen auch die Herzen von Zentralbankern zum Einsatz“, witzelte der 74-Jährige berührt vom Applaus und dankte den Parlamentariern mit päpstlich ausgebreiteten Händen. Danach ging es schnell: Die Sitzung wurde unterbrochen, Draghi fuhr zu Staatschef Sergio Mattarella, um wie angekündigt seinen Rücktritt anzubieten, und das Staatsoberhaupt nahm ihn diesmal an.
Italien droht damit politisches Chaos. Die Politik will so schnell wie möglich eine Neuwahl. Eigentlich hatte Draghi am Mittwoch in der kleinen Parlamentskammer, dem Senat, einen letzten, verzweifelten Versuch gewagt, seine Regierung in dieser absurden Sommer-Krise doch noch zu retten. Dann aber kassierte er eine derart heftige Schlappe, dass sein Außenminister Luigi Di Maio von einem „schwarzen Kapitel für Italien“ sprach. Draghis Rücktritt könnte umwälzende Folgen für das Land, aber auch für Europa haben.
Der erfahrende Ökonom und national wie international sehr hoch angesehene Ministerpräsident hat sich praktisch selbst aus dem Amt manövriert. Sein unbedingter Wille, sämtliche Abgeordneten der Vielparteienregierung auf Linie zu bringen, wurde ihm zum Verhängnis. Nun machen sich die postfaschistischen Fratelli d'Italia um Giorgia Meloni bereit, bei möglichen Neuwahlen die Macht zu erringen. Sie hatte Draghi als einzige nennenswerte Partei nicht in der Regierung.
Regierungsmehrheit zerbröselt
Das Skurrile ist: Beide entscheidenden Vertrauensabstimmungen im Senat hatte Draghi faktisch gewonnen. In der Vorwoche aber reichte ihm das Fernbleiben der Fünf-Sterne-Senatoren, um seinen Rücktritt einzureichen. Und zu den Sterne-Populisten gesellten sich dann beim zweiten Votum auch noch die Mitte-Rechts-Parteien Forza Italia und Lega. Die Regierungsmehrheit des im Corona-Februar 2021 eingesetzten früheren Chefs der Europäischen Zentralbank ist zerbröselt.
Von den insgesamt 321 Mitgliedern des Senats sprachen nur 95 Draghi das Vertrauen aus, weniger als ein Drittel. 38 waren dagegen, der Rest - vor allem Senatoren der Sterne, der Lega und von Forza Italia - gab kein Votum ab. Was für ein Zeichen! „An diesem Tag des Wahnsinns entscheidet das Parlament, sich gegen Italien zu stellen“, schimpfte der Chef der Sozialdemokraten, Enrico Letta.
Dabei hatte Draghi in einer für einen Banker ungewöhnlich energischen und emotionalen Rede am Vormittag noch an die Abgeordneten appelliert, zum Wohle des Landes die Differenzen zu überwinden. Er machte deutlich, dass er als nicht gewählter Außenseiter nur dann an der Regierungsspitze bleiben kann, wenn alle relevanten politischen Kräfte ihn unterstützten - sonst habe er keine Legitimation.
Zugeständnisse an die Zweifler machte er dabei aber nicht. Lega und Forza Italia hatten ihr Ja in der Vertrauensfrage an einen Rauswurf der Fünf Sterne aus der Regierung gekoppelt. Und die Sterne hatten gleich mehrere Forderungen an Draghi, darunter auch die kurios anmutende Bedingung, im vom nicht enden wollenden Abfallproblem geplagten Rom keine Müllverbrennungsanlage zu bauen.
Italien droht nun im politischen Chaos zu versinken, just in einem Sommer, in dem das Land ohnehin geplagt wird: von einer historischen Dürre und großer Hitze, landauf lodernden Waldbränden, steigenden Infektions- und Todeszahlen in der Corona-Krise und den Folgen des Krieges in der Ukraine mit extremen Energie- und Rohstoffpreisen.
Was nun folgt, war bis Donnerstagnachmittag noch offen: Der Staatspräsident könnte einen anderen Experten von außen bestellen, um nach einer Mehrheit im Parlament zu suchen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Mattarella die Kammern auflöst und Neuwahlen im Herbst anordnet. Auf jeden Fall droht dem Mittelmeerland, das sich unter Draghi gemausert hatte, wirtschaftlich gut dastand, dank seiner Impfkampagne vom Corona-Sorgenkind zum Vorbild wurde und sein jahrzehntelanges Chaos-Image abzulegen schien, ein politischer Stillstand.
Ein „Ballett der Unverantwortlichen gegen Draghi“ habe eine Lage provoziert, dass nun ein „perfektes Unwetter“ drohe, schrieb der EU-Kommissar und frühere Ministerpräsident Paolo Gentiloni bei Twitter. „Jetzt ist die Zeit, an Italiens Seite zu stehen. Wir stehen vor schwierigen Monaten, aber wir sind ein großartiges Land.“
Reformstau droht
Der EU-Wirtschaftskommissar weiß genau, wovon er spricht. Italien muss nämlich etliche Reformen umsetzen, um Dutzende noch ausstehende Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen. Ob das überhaupt möglich ist inmitten eines drohenden Wahlkampfs, der angesichts der jüngsten Ereignisse scharf geführt werden dürfte? Einige Reformen hatte bislang noch nicht einmal der energische Draghi durchsetzen können.
International könnte Italien an Einfluss verlieren, den Draghi dank seines Renommees gefördert hatte. Er hatte sein Land in vielen Bereichen auf Augenhöhe mit Deutschland und Frankreich gehievt, was sich nicht zuletzt am gemeinsamen Besuch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Kiew manifestiert hatte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte Draghi am Donnerstag noch für dessen Unterstützung für sein Land.
Wie sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin ticken, das muss sich zeigen. In Umfragen wird dem Mitte-Rechts-Block derzeit ein Sieg bei möglichen Wahlen prophezeit - stärkste Kraft dürften dann die rechtsextremen und postfaschistischen Fratelli d'Italia werden. Parteichefin Meloni zeigte sich am Mittwochabend, nur Minuten nach der vernichtenden Vertrauensabstimmung gegen Draghi, bereit für eine Regierungsübernahme. „Ich habe meine Vorstellungen, wie dieses Land zu regieren ist“, sagte sie bei einer Veranstaltung in Rom.