Deutschland bekommt eine Ampel. SPD, Grüne und FDP haben in dieser Woche ihre Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. So blicken Frankreich, Großbritannien und die EU auf die neue Bundesregierung.
London
„Grünes Licht für den Wandel“ titelte die linksliberale britische Tageszeitung „The Guardian“ einen Tag nach der Regierungsbildung in Deutschland. Denn die Ära von Kanzlerin Angela Merkel endet und damit auch ihre 16 Jahre andauernde Regierungszeit. Mit Blick auf die Wahl erwarteten die Briten lange Zeit einen „Merkelismus ohne Merkel“, der für Stabilität stand, aber auch für die unflexible Haltung Europas, erklärte Joël Reland, Experte für internationale Beziehungen beim Think Tank „UK in a changing Europe“. Doch nun erkennen sie, dass sich etwas ändern wird, sagte Marius Ostrowski, Politologe am Robert Schuman Centre for Advanced Studies. „Denn obwohl sich Scholz als eine Fortsetzung von Merkel inszeniert, ist er eben doch Mitglied der SPD.“
Wie der Wandel in Deutschland aussehen könnte, beschreibt die konservative Tageszeitung „The Telegraph“. Sie nimmt an, dass die Regierung unter der Führung von Scholz das Land in eine liberalere Richtung lenken wird und verweist auf die Pläne, Cannabis zu legalisieren. Die liberale Online-Tageszeitung „The Independent“ hebt hervor, dass die Berliner Koalitionsregierung dem Klimanotstand oberste Priorität einräumen wird, indem sie aus der Kohleverstromung aussteigt und erneuerbare Energien ausbaut. Themen also, die auch in Großbritannien immer wichtiger werden. Der „Guardian“ weist auch darauf hin, was der Ausgang der Wahl in Deutschland für Großbritannien bedeuten könnte: „Alte Parteiloyalitäten brechen in ganz Europa zusammen.“ Daher sollten Koalitionen als Regierungsform der Zukunft betrachtet werde. Die Briten haben ein Zwei-Parteien-System und sind diese Form von komplizierter Allianzbildung nicht gewöhnt.
Die Tageszeitung „The Times“ geht außerdem auf die Bedeutung der neuen Regierung im Zusammenhang mit dem umstrittenen Nordirland-Protokoll ein. „Deutschlands neue Staats- und Regierungschefs befürworten eine harte europäische Reaktion, wenn Großbritannien Elemente des Nordirland-Protokolls ablehnt.“ Mit der Klausel im Brexit-Vertrag hatten London und Brüssel eine Lösung gefunden, um sichtbare Kontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland zu verhindern. Im Gegenzug sollten Würstchen und andere Waren, die von Großbritannien nach Nordirland transportiert werden, kontrolliert werden. Die Regierung in London hat der EU wiederholt damit gedroht, das Abkommen außer Kraft zu setzten.
Paris
Von allen Punkten, auf die sich die neue Regierungskoalition in Deutschland geeinigt hat, erschien einer der französischen Zeitung „Le Figaro“ so frappierend, dass sie ihn auf die Titelseite setzte: „Deutschland wird Cannabis legalisieren“. Abgesehen davon steht die neue Regierung dem konservativen Blatt zufolge für Kontinuität mit kleinen Änderungen. Die finanzpolitischen Diskussionen mit dem Partner dürften künftig nicht einfacher werden, sitzt mit dem Liberalen Christian Lindner doch künftig ein für strikte Finanzpolitik plädierender „Falke“ auf dem Geldtopf der Deutschen: Man hat in Paris nicht vergessen, dass er sich gegen den deutsch-französischen Vorschlag für einen europäischen Aufbauplan zum Ausweg aus der Corona-Krise gestemmt hatte. In mehreren Beschlüssen zur Europapolitik kann Frankreich sich wiederum wiederfinden – von transnationalen Listen bei den Europawahlen bis zu einem Initiativrecht des EU-Parlaments. Die neue Regierung sei bereit dazu, „die strategische Souveränität Europas voranzubringen“, lobte die auflagenstarke Regionalzeitung „Ouest France“.
Auch der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune begrüßte den Koalitionsvertrag als „ein sehr engagiertes Abkommen zugunsten Europas“. Dass der Ton gegenüber China als „systemischem Rivalen“ und auch Russland härter ist und dies unter einer Außenministerin Annalena Baerbock zum Tragen kommen dürfte, entspricht ebenfalls der Linie von Präsident Emmanuel Macron, der auf ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Großmächten pocht. Nicht zuletzt erscheint es als positives Zeichen für die Achse Paris-Berlin, dass Olaf Scholz seinen ersten Auslandsbesuch als Bundeskanzler der Tradition gemäß in der französischen Hauptstadt absolvieren will. Die Visite wird wenige Wochen vor dem Start der EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs ab Januar 2022 stattfinden, bei der Macron sich Unterstützung seines wichtigsten Partners erhofft.
Brüssel
Seine Gratulation sandte David Sassoli via Twitter: Er freue sich darauf, so schrieb der Präsident des Europäischen Parlaments, mit Olaf Scholz und der Ampelkoalition zusammenzuarbeiten, „um Europa sozialer und nachhaltiger zu machen und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen“. In Brüssel ist der Koalitionsvertrag größtenteils gut angekommen. Das dürfte auch kaum überraschen, denn die Ampel stellt ambitionierte Pläne in Sachen Europa auf. So heißt es etwa, dass man die EU zu einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterentwickeln wolle. Das Ziel mag in absehbarer Zukunft unrealistisch erscheinen, doch das Bekenntnis zu mehr europäischer Integration stößt auf Freude bei den EU-Entscheidern im Berlaymont wie auch in großen Teilen des Parlaments. Auch die Forderung, mehr Druck auf Polen und Ungarn auszuüben, und die ehrgeizigen Ziele, etwa im Klimaschutz, werden mehrheitlich begrüßt. Die Erwartungen an die neue deutsche Bundesregierung sind hoch. Vom größten Mitglied in der Staatengemeinschaft erhofft man sich Lösungen für die zahlreichen Baustellen in Europa. Aber ob Berlin auch eine Reform der Haushaltsregeln unterstützen wird, die viele Mitgliedstaaten, vorneweg Frankreich und Italien, fordern? Brüssel erwartet einen positiven Beitrag aus Berlin zur Debatte. Derweil hatte der neue Finanzminister Christian Lindner in der Vergangenheit immer wieder gemahnt, dass die EU „keine Schuldenunion“ werden dürfe.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen hielt sich bislang noch auffallend zurück mit Glückwünschen, was auch mit einem Satz auf der letzten Seite des Ampelvertrags zusammenhängen könnte. Die Grünen erhalten das Vorschlagsrecht für einen möglichen EU-Kommissar nach den Europawahlen 2024, „sofern die Kommissionspra?sidentin nicht aus Deutschland stammt“, wie es heißt. Das heizte in Brüssel die Spekulationen an, was das für die Zukunft der 63-jährigen Deutschen bedeutet. Handelt es sich um eine Misstrauenserklärung oder hat schlichtweg das übliche Gefeilsche um den wichtigsten Posten auf der europäischen Bühne bereits begonnen? Der Machtkampf, so scheint es, ist eröffnet.