Ein belegtes Brot mit Käse oder Wurst. Ein Apfel, vielleicht eine Banane. Milch. Um ein kostenloses Frühstück für ihre Kinder zu bekommen, standen Eltern in New Rochelle im US-Bundesstaat New York zu Beginn der Pandemie Schlange. „Fünfmal um den Block herum“, sagt Rhiannon Navin. Die gebürtige Bremerin hat monatelang ehrenamtlich in einer Suppenküche gearbeitet, als die Stadt einer der ersten Corona-Hotspots der USA war, und Armut aus nächster Nähe erlebt. Diese Bilder begleiten sie. Auch jetzt, da sie sich wieder politisch engagiert.
„Die Situation ist viel schlimmer, als ich gewusst hatte“, sagt sie im Videotelefonat und gehört doch keineswegs zu denen, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen. „In Amerika leben viele Familien von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, und wenn nur einer ausfällt und die Schulen schließen, dann bekommen die Kinder kein Frühstück“, weiß die Romanautorin („Only Child“ „Alles still auf einmal“), Jahrgang 1978, die das Kippenberg-Gymnasium besucht hat und bis zu ihrer Heirat Carr hieß. Mittlerweile lebt sie schon so lange in den USA, dass sie Deutsch zeitweise mit amerikanischem Akzent spricht.
Omikron lässt die Corona-Zahlen in den USA gerade wieder nach oben schnellen und weckt Erinnerungen an den Beginn der Pandemie. Ein Anwalt aus New Rochelle lag damals als „Patient Zero“ im Koma, Schulen und Betriebe schlossen, der Alltag änderte sich schlagartig. Auch für Familie Navin. „Von null auf hundert.“
Als der erste Lockdown kam, blieben auch Rhiannon Navins Söhne und ihre Tochter zu Hause, aber anders als andere in ihrem Alter waren sie gut versorgt. Also kontaktierte sie einen Freund, der eine Suppenküche managt, und erkundigte sich, was er denn brauche. „Hilfe“, hatte er geantwortet. Und Hilfe bekommen. Andere Freiwillige finden, Brote schmieren, Tüten packen, jeden Tag im Supermarkt für tausende von US-Dollar Nahrungsmittel einkaufen: All das gehörte zu ihren Aufgaben in den Monaten danach.
Bei einem dieser Einsätze hat der renommierte Fotograf John Moore, ein Pulitzerpreisträger, Rhiannon Navin porträtiert. Ihr Kopf im Profil, der Blick geradeaus, wie bei einem Appell. Eine OP-Maske bedeckt Kinn, Mund und Nase, das Sternenbanner bildet den patriotischen Hintergrund. In der Berichterstattung über Corona ist dieses Bild in US-Medien schon sehr häufig gezeigt worden. „Das ist viral gegangen.“ Es ist schon fast eine moderne Ikone, ein Symbolfoto, das auch ohne Worte und sogar ohne aufgekrempelte Ärmel die alte Durchhalteparole „We can do it“ aufs Neue transportiert: Eine Frau, eine US-Staatsbürgerin, bietet der Krise die Stirn, aus freier Entscheidung und gemeinsam mit anderen.
Allein in einem Monat habe die Suppenküche 30.000 Essenstüten ausgegeben, erzählt die ehemalige Mitarbeiterin einer New Yorker Werbeagentur. Und es ging nicht nur um Essen. Privatleute und Firmen brachten Computer und Tablets vorbei, die Schülerinnen und Schüler sich ausleihen konnten. „Wir haben improvisiert, hatten ja keine Ahnung. Als die Schulen das dann in den Griff bekommen haben, habe ich mich wieder auf die Politik konzentriert.“
Das ist ihr Ding. Schon vor Jahren hat sich die Mutter von drei Kindern der Graswurzelbewegung angeschlossen, um in ihrer neuen Heimat etwas zu verändern. „Wir mussten Trump rauskriegen“, sagt Rhiannon Navin. Die Wahlen von 2020 waren die zweiten, an der die Migrantin und Neubürgerin teilnehmen durfte. Aufs Wählen hat sie sich nicht beschränkt. Wie andere aus ihrer Gruppe „Indivisible“ (Unteilbar) ist sie immer wieder nach Pennsylvania gefahren, um mit Wahlberechtigten zu reden. „Wenn dann jemand sagt, ich gehe wählen, weil du mich überzeugt hast, dass eine Wahl einen Unterschied machen kann, dann habe ich das Gefühl, dafür ist es das wert.“ Bis zur Erschöpfung haben sie und die anderen telefoniert, SMS und Postkarten verschickt, um möglichst viele Leute dazu zu bewegen, wählen zu gehen, für die Demokratie, für Klimaschutz oder andere Waffengesetze zu stimmen.
Also vor allem gegen Trump, gegen den Hass und die Lügen, die er Tag für Tag verbreitete, darunter auch jede Menge Unwahrheiten über Corona. Inzwischen steht der Ex-Präsident öffentlich dazu, dreifach geimpft zu sein, und wirbt zum Entsetzen seiner Anhängerschaft sogar fürs Impfen. „Warum hat er nicht damals gesagt, wir besiegen die Pandemie gemeinsam, weltweit“, fragt sich Rhiannon Navin rein rhetorisch. Trump hat seine eigene Logik. Und die überzeugt noch immer die Mehrheit der Republikaner.
Wenn Rhiannon Navin SMS übers Wählen verschickt, dann zunächst ein Standardschreiben. „Von den meisten bekommt man keine Antwort, von vielen eine richtig heftige.“ Das hält sie nicht davon ab, mit „Trumpies“, wie sie sie nennt, zu telefonieren oder an ihre Türen zu klopfen, um das Gespräch zu suchen. „Für mich hat sich das im Wahlkampf so angefühlt: Es ging ums Überleben. Alles oder nichts. Für unsere Kinder, für unser Leben und unseren Planeten. Und es war sehr, sehr knapp.“ An einem Abend in einem Hotel in Pennsylvania weinte sie sich in den Schlaf. „Auch weil ich müde war. Aber vor allem, weil ich dort hauptsächlich mit Leuten gesprochen hatte, die für Trump sind, und ich dachte: Wir schaffen es nicht.“
Aber sie haben es geschafft. Und keine Zeit, sich auf diesem Erfolg auszuruhen. Die Midterms, die Wahlen zum US-Kongress, stehen in diesem Jahr an, und das Land ist seit Trump tief gespalten. Corona hat dieses Gefühl verstärkt. „Es ist beängstigend, sehr traurig auch, und es wird schlimmer“, sagt Rhiannon Navin. Was ihr große Sorgen mache, sei der „totale Zusammenbruch der Kommunikation“. Sogar unter Eltern am Rand eines Fußballfeldes. „Man kann nicht mehr einfach so Unterhaltungen führen.“ Wer Fox News Glauben schenke oder Lügen in Facebook aufsauge, wer davon überzeugt sei, dass einem beim Impfen ein Mikrochip eingepflanzt werde, sei nicht mehr erreichbar. „Für die ist das Realität.“ Zu erkennen seien diese neuen Radikalen beispielsweise daran, dass sie keine Maske tragen oder eben eine auf Kinnhöhe, aus Protest gegen Vorschriften, die der Pandemie-Bekämpfung dienen sollen.
In Sitzungen der Schoolboards, zu denen früher einige wenige Eltern kamen, erscheinen sie mittlerweile zu Hunderten, um ihre Anliegen durchzusetzen. „Die kommen rein und müssen sich streiten: Schulen sollten geöffnet werden, die Kinder sollten keine Masken tragen und nicht geimpft werden. Es geht von einem Thema zum anderen“, so hat es die Bremerin erlebt. „Worum es gar nicht geht, ist die Ausbildung ihrer Kinder. Es geht darum, Einfluss zu nehmen. Und das wird von anderen radikalen Gruppen unterstützt, wie den ,Proud Boys‘, die auf lokaler Ebene immer mehr Leute mit reinziehen.“ Wie beim Sturm auf das Kapitol vor einem Jahr. Auch beim Einsatz im Wahlkampf habe sie gespürt: „Da ist so viel Hass, so viel Wut.“ Dass sie ein dickes Fell hat, ist ihr zugutegekommen. „Viele andere haben es aufgegeben, an Türen zu klingeln.“ Was in US-Wahlkampf früher normal war.
Stoff genug für neue Bücher, wenn sie denn häufiger zum Schreiben käme. In „Only Child“ hatte sie ihr Publikum mit der begründeten Angst so vieler Eltern und Kinder vor einem Schulamoklauf konfrontiert. Mit beachtlichem, vor allem auch immateriellem Erfolg. „Das Buch war für mich eine Plattform, um über Waffen zu sprechen“, sagt die Autorin. Für die Vermarktung wäre es besser gewesen, sie hätte nachgelegt, als sie noch in den Talkshows war. Aber Rhiannon Navin hat sich dafür entschieden, Wahlkampf zu machen, und dann für hungrige Schulkinder Brote geschmiert. Und so konnte sie erst jetzt ihr zweites Manuskript an ihren Agenten schicken, einen Roman über junge Jugendliche, Drogenkonsum, Internet und Social Media. Mit der Arbeit an ihrem dritten Buch will sie unbedingt in den nächsten Monaten beginnen. „Das Schreiben hat mir gefehlt.“
Für ihr Engagement in der Suppenküche ist Rhiannon Navin noch im ersten Pandemiejahr vom Staat New York ausgezeichnet worden als „Woman of Distinction“, was sich mit „bemerkenswerte Frau“ übersetzen lässt. „Das war mir erst mal furchtbar peinlich, denn deshalb habe ich es ja nicht getan“, sagt die 43-Jährige. „Das Beste ist doch, wenn man sich abends sagen kann: Ich habe einen Unterschied gemacht! Das gibt mir neue Energie.“ Und so eine Ehrung kann nicht schaden bei der wichtigsten PR-Kampagne ihres Lebens – für Demokratie, friedliches Miteinander und Klimaschutz.