Es gibt einen Schriftsteller, der seit seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ in Deutschland oft als großer Frankreich-Erklärer, im eigenen Land hingegen vorrangig als Vertreter der radikalen Linken gilt: Didier Eribon. So kritisiert er Präsident Emmanuel Macron als „Verkörperung des neoliberalen, zutiefst antidemokratischen Wahnsinns“. Diese Analyse ist völlig überspitzt, denn Macrons Reformen blieben moderat und wirkten sich positiv auf die Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit aus. Während der Pandemie beschloss der Präsident großzügige Maßnahmen vom Kurzarbeitergeld bis zu Staatshilfen für etliche Branchen sowie sozial Benachteiligte.
Eribons Hauptthese ist, dass in den einstigen Hochburgen der Sozialisten oder der Kommunisten, welche sich den Klassenkampf auf die Fahnen schrieben, inzwischen die Rechtsextremen dominieren. Und sie erweist sich mit Blick auf die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl im April als zutreffend. Ihre besten Ergebnisse erzielt die Rechtspopulistin Marine Le Pen in deindustrialisierten Gebieten im Norden und Osten des Landes. Ihre wichtigste Wählergruppe ist die untere Mittelschicht. Jeder dritte Arbeiter mit geringem Bildungsgrad gibt an, Le Pen zu wählen. Geschickt setzt sie auf das Thema Kaufkraft, das die Menschen in Frankreich angesichts der Inflation und hohen Energiepreise am meisten beschäftigt. Laut Umfragen könnte sie bis zu 21 Prozent und der Stichwahl gegen Amtsinhaber Macron sogar 47,5 Prozent erreichen – das wären 13,5 Prozent mehr als vor fünf Jahren.
Konkurrenz macht ihr der Ultrarechte Éric Zemmour (10,5 Prozent). Beide schlagen nationalistische Töne an, versprechen einen Einwanderungsstopp und weniger Rechte für Ausländer. Dabei zielen sie nicht exakt auf dieselbe Wählerschaft. Bei Zemmours Anhängern handelt es sich öfter um Mitglieder der Bourgeoisie mit höherem Bildungsstand, die eher in den Metropolen oder ihren wohlhabenden Vororten leben.
Damit bedroht Zemmour auch die Republikanerin Valérie Pécresse (9,5 Prozent). Denn er zieht einen großen Teil der katholisch-konservativen Wähler an. Dass Zemmour mehrmals wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, unter anderem wegen seiner Aussage, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien „nur Diebe, Mörder und Vergewaltiger“, bringen sie offenbar in Einklang mit den Werten ihres Glaubens. Auch folgen sie seiner Einschätzung, die Justiz sei politisch gelenkt. Eine gefährliche Behauptung, die eine wichtige Säule der Demokratie zu untergraben versucht. Bevor Zemmour in die Politik ging, bestand seine Aufgabe beim Fernsehsender Cnews darin, als „Polemiker“ mit verbalen Provokationen gegen Muslime und Einwanderer hohe Einschaltquoten zu erzielen. Das funktionierte.
Insgesamt wird das rechtsextreme Lager durch die permanente Medienpräsenz beider Politiker gestärkt. Da Zemmour regelmäßig durch frauenverachtende Beiträge auffällt und Gewalt gegen Frauen als reines Problem der Ausländer und Araber abtut, erhält er deutlich weniger Zustimmung von den Wählerinnen. Bei ihnen ist Le Pen erfolgreicher, die im Vergleich zu ihm sanft wirkt – auch wenn das keineswegs für ihr Programm gilt.
Im linken Lager hebt sich Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon von den anderen ab, der sowohl Anhänger aus dem Bildungsbürgertum als auch aus den einfacheren sozialen Schichten hat. 2017 war er der beliebteste Kandidat der Erstwähler unter 25 Jahren, von denen ein Viertel für ihn gestimmt hatte.
Auch Le Pen zieht viele junge Menschen an. Dennoch sagen aktuelle Studien, dass die Mehrheit dieser Wählergruppe im April für Macron stimmen dürfte. Er zieht weiterhin eine überwiegend eine gut ausgebildete, urbane Wählerschaft an und setzt auf pro-europäische Akzente. 2017 wurde sein Duell gegen Le Pen in der Stichwahl zu einer Konfrontation zwischen den Gewinnern und den Verlieren der Globalisierung stilisiert. An dieser Tendenz hat sich wenig geändert. Aus heutiger Sicht kann der Präsident im ersten Durchgang mit 28 Prozent und schließlich mit einem Sieg rechnen. Für Schriftsteller Didier Eribon, den großen Kritiker Macrons, keine erfreuliche Aussicht.