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70 Jahre Israel Wo Lebensrealitäten aufeinanderprallen

Israel ist ein Land mit vielen Seiten. Tief religiös und zugleich modern. Unser Autor Nico Schnurr ist durch den jüdischen Staat gereist. Eine Reisereportage.
11.05.2018, 18:26 Uhr
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Wo Lebensrealitäten aufeinanderprallen
Von Nico Schnurr

Tel Aviv – Tag 1 & 2

In der Abenddämmerung wirkt es, als sei ein Raumschiff am Strand von Tel Aviv gelandet. Wer den Klängen der Trommler, von Jaffas Altstadt kommend, entlang der Promenade folgt, sieht irgendwann eine untertassenförmige Betonruine am Strand auftauchen.

Vom Ufer aus betrachtet gleicht Tel Aviv einer Katalogversion seiner selbst. Die penibel gesäuberte Promenade, die akkurat aufgereihten Palmen, der frisch aufgeschüttete Sand, die verspiegelten Hochhaustürme, die dahinter zum Himmel schießen. Ein israelisches Miami. Allein das graffitibunte Raumschiffgebilde, vor dem die Trommler ihre abendlichen Jamsessions abhalten, wirkt wie ein außerirdischer Fremdkörper.

In den 1980er-Jahren gab es im Raumschiff, das hier Dolphinarium heißt, nun ja, Delfinshows zu sehen. Die Pleite kam schnell. Danach war das Dolphinarium schon alles: Autowerkstatt, Einkaufszentrum und zuletzt Diskothek. Zuletzt, das heißt bis 2001. Dann wurde das „Dolphy“ Ziel eines Selbstmordattentats der Hamas. 21 Menschen, vor allem israelische Jugendliche, tanzten in den Tod. Tel Aviv hat sich seitdem rasant verändert. Die Stadt am Mittelmeer begann, sein eigenes Miami zu werden. Die Glastürme kamen, die Ruine blieb. Bis heute.

Der Krieg ist hier gefühlt ganz weit weg

Nirgendwo in Israel scheint der Nahostkonflikt so fern wie am Strand von Tel Aviv. „Life is a beach“ steht auf einem knallroten Badehandtuch, das noch im Sand liegt, als die Sonne bereits verschwunden ist. Europäische Easy-Jet-Touristen, vielleicht Anfang 20, die sich mit Wein im Tetrapack auf die Nacht einstimmen, ziehen vorbei. Surfer in Neoprenhülle schleppen ihre Bretter über die Promenade. Zwischen Palmen und Partytouristen scheint Krieg wie eine abwegige Behauptung. Wäre da nicht das Raumschiff.

Das Dolphinarium erinnert daran, wie brüchig Freiheit und Frieden hier sind. Dass diese Stadt eben doch kein Mittelmeer-Miami ist, keine gewöhnliche Stadt, losgelöst von allem um sie herum. Wie ein Mahnmal klebt die Betonruine am Küstenstreifen. Vergeblich hatten Angehörige der Opfer versucht, aus den Überresten der Disco eine Erinnerungsstätte zu machen. Dass sie das nun irgendwie doch geworden ist, liegt vor allem am Eigentümer, der das Grundstück zwar verkaufen würde, bislang aber wohl eine Summe fordert, die niemand zahlen will. Und so zeugt das Dolphinarium auch von Tel Aviver Trauerarbeit.

Aus dem mausgrauen Untertassengerippe wurde zwischenzeitlich ein Kunstwerk. Der Street Artist Dede hatte in dem weggesprengten Mittelteil des Gebäudes einen offenen Mund erkannt und das Dolphinarium in ein Gebiss verwandelt. Drei Jahre ist das her. Inzwischen blättert die Farbe von der Fassade. Wie sollte es auch anders sein in dieser Stadt, in der immer alles im Wandel ist.

Die Propheten sind sonnengebräunte Rucksackreisende

Tel Aviv wandelt sich auch deshalb so rasch, weil die Stadt vieles ist, aber eines sicher nicht: wie Jerusalem. Tel Aviv schleppt nicht Jahrtausende von Kriegen und religiösen Konflikten mit sich herum. Es klingt wie ein abgegriffenes Klischee aus einem Reiseführer, aber tatsächlich geht es in dieser Stadt immer um das Hier und Jetzt, nicht um das Gestern. Die Propheten, die man hier trifft, stehen auf den Dachterrassen der Hostels, sonnengebräunte Rucksackreisende, die vom Nachtleben predigen. Junge Israelis, die einen fragen, ob man aus Berlin sei und noch im gleichen Atemzug herunterbeten, wie sehr Tel Avivs Techno-Szene doch dem Berliner Nachtleben ähnelt.

Tel Aviv kennt keine Sperrstunde. In den Seitenstraßen entlang des Rothschild Boulevards und in den schmalen ­Gassen des südlichen Stadtteils Florentin wird gefeiert, als ob es kein Morgen gäbe. Weil ja wirklich niemand so genau weiß, was morgen ist.

Mit seinen etwa 440.000 Einwohnern ist Tel Aviv eigentlich ein besseres Bochum oder Bielefeld. Dass man sich trotzdem wie in einer Weltstadt fühlt, hat viel mit der Start-up-Szene zu tun. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele junge Unternehmen im Technologiesektor. Tel Aviv ist zur zweiten Hauptstadt der Hightech-Ideen geworden. Zwischen Wüsteneinöde und Mangel an Ressourcen blieb keine andere Wahl. Will das Land überleben, muss es erfinderisch sein. Und das sind die ­Israelis. In Tel Aviv haben sie etwa den USB-Stick erfunden, einen Laser zur Kariesentfernung, der Bohren überflüssig machen soll, und Fensterscheiben, die Sonnenlicht in Strom umwandeln.

Die jungen Bewohner Tel Avivs arbeiten in Start-ups, und im Grunde entstammen sie selbst aus einem: dem Staat Israel. Nirgendwo wird man mehr an dieses „Think Big“ erinnert, an diesen Gründergeist, als in der Weißen Stadt. Mehr als 4000 Gebäude im Bauhausstil, das schöne Tel Aviv, sind über mehrere Viertel verteilt. Wenige schwärmten so sehr von dieser Weißen Stadt wie einer, der sie nie sah. Theodor Herzl war ein Fantast, er verstand sich als Visionär. In seinem utopischen Roman umreißt er einen futuristischen Judenstaat – „Altneuland“. Der hebräische Titel: Hügel des Frühlings, Tel Aviv. 1902 erschien das Buch, sieben Jahre später trafen sich 66 Familien, um eine Stadt auf Sand zu bauen. Mit Muscheln losten sie die ersten Parzellen zu, den Traum von einem freien Leben.

"Der Alkohol liegt uns im Blut."

Tel Aviv ist bis heute ein Ort der Träume. Die Menschen träumen von Amerika, von Berlin, von einem freien Leben. Eine immerwährende Suche nach Freiheit, ein ständiges Ringen. „Die Antwort liegt immer auf dem Grund der Flasche“, sagt Ronny Hollaender. In ihrem Fall stimmt das tatsächlich. Die 29-Jährige stammt aus einer jüdisch-orthodoxen Familie aus dem Großraum Tel Avivs. „Eigentlich ging es immer nur darum zu machen, was ich liebe: irgendetwas mit Alkohol“, sagt sie und lacht. Dabei meint sie das vollkommen ernst. „Ich bin deswegen das schwarze Schaf in der Familie.“ Dabei wollte Hollaender bloß eine Tradition fortführen, die ihrem Großvater im Konzentrationslager das Leben gerettet hatte: Schnapsbrennen. Erst hatten ihm die Nazis seine Brennerei genommen, dann brannte er, um zu überleben, den Wachmännern Schnaps aus allem, was sie ihm gaben.

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„Alkohol liegt uns im Blut“, sagt ­Hollaender. Inzwischen ist sie die erste Winzerin und Brennmeisterin Israels. Bis dahin war es ein zäher Kampf. „Ich habe mich gegen den Standard entschieden.“ Sie trägt ihr Haar offen, die Hosen lang, die Kleider kurz. Als koscher gilt für viele nur Wein, der allein von orthodoxen Männern produziert wurde. ­Hollaender wollte das nicht hinnehmen. Sie sah keinen religiösen Sinn in der Vormachtstellung der männlichen Winzer. Sie ließ sich in Baden-Württemberg zur Brennmeisterin ausbilden. Heute berät sie die israelische Spirituosenbranche, bald kommen ihre ersten Weine auf den israelischen Markt. „Es ist egal, was man macht, irgendjemand ist immer dagegen“, sagt Hollaender. „Man muss sich seine Freiheit hier erkämpfen.“

Das weiß auch Betty Ezri. Ihre Eltern, persische Juden, kamen aus dem Iran nach Israel. „Mit 14 habe ich mich für alle grundlegenden Attribute gehasst, die mich ausmachten: weiblich, persisch, lesbisch.“ Heute ist Ezri, 34, eine laute Stimme der großen Gemeinschaft der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, der LGBT-Community, in Tel Aviv. Lange musste Ezri darum ringen, akzeptiert zu werden, von sich selbst, von ihrer Familie. „Inzwischen habe ich Frieden mit mir geschlossen.“ Sie hat Protestmärsche gegen die geringen Fördermittel für die Szene organisiert. Jeden Mittwoch veranstaltet sie LGBT-Partys. Freiheit findet man in Tel Aviv auf der Tanzfläche.

Hier geht es zu Teil 2 der Reportage - aus einem Kibbutz

In Teil 3 ist Nico Schnurr in die Stadt Harish nahe des Westjordanlands gereist

Im vierten Teil geht es um die Golan-Höhen

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