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Trauer und Verzweiflung Berichte aus einem Land in der Krise

Der Bundespräsident spricht mit Hinterbliebenen von Menschen, die während der Corona-Krise verstorben sind. Die Begegnung zeigt, wie wichtig es für die Gesellschaft ist, sich dem Gefühl der Trauer zuzuwenden.
06.03.2021, 05:00 Uhr
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Von Anja Maier

Was es bedeutet, tatsächlich bedeutet, einen Menschen in der Corona-Krise verloren zu haben, ist etwas, was überwiegend innerhalb der betroffenen Familien bleibt. Doch es macht etwas mit einem Land, einer Gesellschaft, in der binnen eines Jahres mehr als 70.000 Menschen an oder mit Covid-19 verstorben sind. Der Bundespräsident hat sich am Freitag mit Hinterbliebenen getroffen.

Zwei von ihnen, eine Journalistin und ein Einzelhändler aus Berlin, sind bei dem Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue anwesend. Kirsten Grieshabers Eltern sind kurz hintereinander an Covid-19 erkrankt und verstorben, ebenso Aslan Mahmoods Vater. Weitere vier Menschen sind per Video zugeschaltet. Aus Osterholz-Scharmbeck ist die evangelische Trauerbegleiterin Katharina Ziegler dabei. Anita Schedel aus Passau hat in der ersten Pandemiewelle ihren Mann verloren, Andreas Steinhauser aus Altdorf bei Landshut seine Großmutter und Michaela Mengel aus Essen ihre Tochter. Öffentlich über ihren persönlichen Verlust zu sprechen, fällt nicht leicht. Es fließen Tränen bei diesem Treffen.

„71.504, das ist und das bleibt eine erschütternde, verstörende Dimension“, sagt der Bundespräsident bei der Begrüßung. Hinter jedem Fall steht ein Mensch. Etwa Michaela Mengels Tochter Annalena, die im Januar in einer Essener Klinik gestorben ist. Die mit einem Gendefekt geborene Annalena hatte sich vermutlich in der Behindertenwerkstatt infiziert. Nach dramatischen Tagen musste ihre Mutter „zusehen, wie mein Kind gestorben ist“.

Oder der Mann von Anita Schedel, der vor knapp einem Jahr 59-jährig aus dem Leben gerissen worden ist. Der Arzt hatte noch selbst die Aufnahme seiner infizierten Lunge gesehen und gesagt: „Das sieht nicht gut aus.“ Wenig später war er tot. Andere mussten die Last der für alle geltenden Einschränkungen mittragen. Etwa die Oma von Andreas Steinhauser, die in einem Pflegeheim gestorben ist, ohne sich von ihrer Familie verabschieden zu können.

Es sind Erzählungen aus einem Land in der Krise, von überlasteten Krankenhäusern, fehlenden Schutzmaßnahmen, harten Entscheidungen und einsamer Trauer. Der Bundespräsident hört seinen Gesprächspartnern aufmerksam zu. „Ich glaube, dass wir der Verstorbenen auch gemeinsam, als Gemeinschaft gedenken sollten“, sagt er. Am 18. April soll in Berlin eine Gedenkfeier mit der Staatsspitze und Hinterbliebenen stattfinden. Er halte es für sehr wichtig, „dass wir innehalten, um gemeinsam in Würde Abschied zu nehmen von den Verstorbenen in der Zeit der Pandemie – auch von jenen, die nicht dem Virus zum Opfer gefallen sind“. Steinmeier möchte wissen, wie die Trauernden das sehen, ob ihnen solch ein Gedenken helfen könnte.

Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Anita Schedel bedankt sich ausdrücklich für die Initiative des Bundespräsidenten. „Das gibt einem Trost und ist eine Fürsprache für die Verstorbenen und uns Trauernde.“ Die Pandemie sei noch lange nicht vorbei. Trotz des etwas verschwommenen Bildes sieht man der Witwe den Schmerz an, den sie nach wie vor zu tragen hat. Auch die Trauerbegleiterin Regina Ziegler hält es für hilfreich, als Gesellschaft um die Toten zu trauern. „Es ist eine große Aufgabe, über Trauriges zu sprechen“, sagt die Theologin. Gemeinsames Gedenken werde Projektionsflächen schaffen für jene, die betroffen wurden, in welcher Weise auch immer.

Michaela Mengel hält ihre Trauer lieber privat. Sie erzählt, dass sie die Beisetzung ihrer Tochter ganz bewusst im kleinsten Kreis begangen habe. Und dass dies nicht alle verstanden hätten. Vor mittlerweile zwei Monaten ist Annalena gestorben, die Mutter geht fast jeden Tag zum Grab und redet mit ihr. Als Annalena im Sterben lag, hat sie ihr Kind festgehalten und zusammen mit ihr auf den Tod gewartet. Sie hat dann ihr Handy herausgeholt und Musik angemacht: „Der letzte Tanz“ des Sängers Bosse. In dem Song heißt es: „Warum merkt man immer erst beim Abschied, was es uns bedeutet? Warum merkt man immer erst beim Winken, wie schön es war?“ Manuela Mengel schaut aus ihrem Wohnzimmer den Bundespräsidenten an und sagt: „Jetzt sitze ich hier, und mein Leben ist komplett anders.“ Auf dem gerahmten Foto neben ihr lacht Annalena.

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