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Essay über neue Technologien Maschinen lernen sprechen: Sind wir bereit für die "neue Spezies"?

Künstliche Intelligenz wird künftig eine ganz neue Art von Beziehung mit Menschen eingehen können. Das birgt Chancen und Risiken – und mit beidem können wir nur schlecht umgehen, meint Bastian Angenendt.
15.10.2023, 15:11 Uhr
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Maschinen lernen sprechen: Sind wir bereit für die
Von Bastian Angenendt-Eiserbeck

Dass Gundula Gause in einem TV-Studio steht und Nachrichten vorliest, ist erst mal nichts Überraschendes. Doch dieses eine Video der ZDF-Moderatorin aus dem September ist besonders: Gause spricht über Künstliche Intelligenz (KI) und wie sie uns mittlerweile ermöglicht, auch komplexe Texte in andere Sprachen übersetzen zu lassen. In dem gut einminütigen Clip wechselt die „heute“-Journalistin gleich mehrfach die Sprache: von Deutsch über Hindi, Englisch, Portugiesisch und Französisch wieder zurück ins Deutsche, inklusive passender Mimik, Gestik und Betonung. Der Clou: Gause hat für diesen Aufsager im echten Leben nicht auch nur ein Wort in einer Fremdsprache gesprochen.

Was das ZDF mit diesem Video zeigt, ist nur eine der zahlreichen, äußerst beeindruckenden Anwendungen, die Computer- und Internetnutzer in den vergangenen Monaten in Staunen versetzt haben. Darunter Programme, mit denen man richtige Dialoge führen kann, die nur anhand einiger schriftlicher Befehle Gemälde malen, dichten, Internetseiten bauen, die auch selbst Computerprogramme schreiben können. Und eben auch die Maschine, die die Video-Ansprache von Gundula Gause in wenigen Minuten gleich mehrfach übersetzt, mit identischer Stimme nachvertont und samt passender Lippenbewegung ins Bewegtbild montiert hat. Künstliche Intelligenz hat alles das in rasanter Geschwindigkeit von Vision zu Wirklichkeit werden lassen. Und es ist nicht zu erwarten, dass das Tempo bei der Weiterentwicklung dieser Technologien abnimmt.

Künstliche Intelligenz wird die Welt verändern 

Man muss weder Visionär noch Computerexperte sein, um zu erkennen, dass diese Technologien die Welt verändern werden, und nicht nur die eines begrenzten Fachpublikums. „Die Macht der künstlichen Intelligenz ist so unglaublich, dass sie die Gesellschaft auf tiefgehende Weise verändern wird”, sagte Microsoft-Gründer Bill Gates bereits vor ein paar Jahren. Und nun kam der Moment, in dem Computer gelernt haben, Sprache jenseits von kryptischen Codes zu verstehen und zu sprechen. Hannah Bast, Informatikerin der Uni Freiburg mit rund 20 Jahren Forschungserfahrung auf dem Gebiet der KI, vergleicht diese Errungenschaft im „Spiegel“-Podcast „Moreno+1“ mit der Erfindung des Internets. Die jüngsten Entwicklungen seien „revolutionär“, sagt die renommierte Expertin – und bemüht gar das Bild einer „neuen Spezies“, die der Mensch im Begriff sei zu erschaffen. Was bei vielen die Frage aufwirft: Sind wir bereit für den Erstkontakt?

Fraglos birgt die neue KI-Generation neben großen Chancen mindestens genauso große Risiken. Wenn ein schlauer Sprachcomputer beispielsweise auf einem internationalen Kongress das Dolmetschen übernehmen kann, könnte er dem Propagandisten auch dabei helfen, seine Botschaften mehrsprachig zu verbreiten. Wenn er am Kunden-Telefon genau heraushören und ausdiskutieren kann, wo das Problem des Anrufers liegt, kann er Betrügern auch dabei helfen, ihre Opfer telefonisch zu einer Sofort-Überweisung zu überreden. Er kann kommunizieren wie ein herzlicher Freund oder ein manipulativer Feind. Keine Müdigkeit, keine Moral, kein Gewissen hält ihn davon ab, diese Sachen täglich rund um die Uhr zu tun, wenn er nur den passenden Befehl erhält. Das Verstehen von Sprache ist für Maschinen nicht weniger als die Grundlage dafür, dass Sie eine ganz neue Art eine Art von Beziehungen zu Menschen aufbauen können werden. Vielleicht noch nicht morgen, aber sehr bald.

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Leider muss man es angesichts dessen als gesichert ansehen, dass unsere Gesellschaft zunächst erst mal jahrelang damit zu tun haben wird, diesen Entwicklungen hinterherzurennen, Symptome zu bekämpfen, statt an den Ursachen zu arbeiten. Erstens weil nicht ansatzweise zu überblicken ist, was alles durch Künstliche Intelligenz verändert wird und auf welche Weise. Und zweitens, weil speziell Politik und Justiz seit der Erfindung des Internets noch nie aufgehört haben, hinterherzurennen.

Der Online-Händler Amazon wurde bereits 1994 gegründet, Google feierte gerade eben sein 25-jähriges Bestehen, Facebook und Youtube werden bald 20. Hass, Hetze, Lug und Betrug sind auf diesen Internet-Plattformen, die weltweit Milliarden Nutzer haben und von zig Millionen Menschen täglich genutzt werden, seit Jahren verbreitet. Und dennoch kann es Bürgerinnen und Bürgern immer noch passieren, dass sie nicht ernst genommen werden, wenn sie mit dem Hinweis auf eine im Internet ausgesprochene Morddrohung auf einer Polizeiwache vorstellig werden.

Überhaupt wurden nur wenige Gesetze speziell für die Gefahren aus der digitalen Welt geschrieben oder zumindest angepasst. Oder nur mit mäßigem Erfolg, wie beispielsweise beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Es sollte Betreiber großer sozialer Netzwerke dazu verpflichten, strafbare Inhalte zu löschen und sie den Behörden zu melden. Deswegen nahm NetzDG im Februar 2022 die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) ihre Arbeit auf. Das Bundeskriminalamt (BKA), bei dem die neue Meldestelle angesiedelt ist, rechnete zunächst damit, dass auf diese Weise jährlich 150.000 Strafverfahren eingeleitet werden könnten. Doch die Betreiber der größten Netzwerke hielten den Aufwand für das Melden der Inhalte trotz ihrer Milliardengewinne und Supercomputer für unverhältnismäßig, klagten und wurden aus der Pflicht genommen. Letztlich kamen in den ersten 14 Monaten nach Start der ZMI nur rund 7500 Meldungen an.

Medienerziehung sollte schleunigst zum Schulfach werden

Ein neuer und Erfolg versprechender Ansatz ist das Gesetzpaket, das die Europäische Union (EU) in diesem Jahr auf den Weg brachte und das in Deutschland im kommenden Jahr auch an die Stelle des NetzDG treten wird. Mit dem Gesetz für Digitale Dienste (Digital Services Act) und dem Gesetz für Digitale Märkte (Digital Markets Act) will die EU nicht nur klare Richtlinien und neue Sanktionsmöglichkeiten für den Umgang mit strafbaren Inhalten, mit Datenschutz und mit Nutzerrechten schaffen, sondern auch die Marktmacht besonders großer Dienste einschränken, indem sie sich für Angebote kleinerer Betreiber öffnen. Zu den Folgen könnten etwa zusätzliche App-Stores auf Apples iPhones und die Öffnung großer Chatdienste wie Whatsapp für bisher nicht kompatible Konkurrenten gehören.

Unsere größte Sorge allerdings sollte nicht den aktuellen Gesetzen gelten, sondern den Gesetzgebern von morgen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind es, die wie keine andere Altersgruppe von den neuen Entwicklungen betroffen sein wird. Laut einer aktuellen Studie von ARD und ZDF zur Mediennutzung in Deutschland sind 99 Prozent der 14- bis 29-Jährigen täglich im Internet. Nimmt man alles zusammen, also Nutzung von sozialen Medien, Messengern, Text-, Audio- und Videodiensten, kommen diese jungen Menschen der Studie zufolge auf mehr als viereinhalb Stunden der Internetnutzung täglich. Für sie ist es also umso wichtiger, erkennen zu können, welchen Inhalten Vertrauen geschenkt werden kann und welchen nicht, was Algorithmen machen und warum, was echt ist und was nicht, wie man mit seinen Daten im Internet umgehen sollte und eben in Zukunft auch, wie man die mit KI verbundenen Risiken minimiert und die Chancen nutzt. Dieses Erlangen „digitaler Souveränität“, wie es unter anderem im Koalitionsvertrag der Bremer Regierung als Ziel formuliert wird, muss allerdings nicht nur im Schulunterricht viel größeren Stellenwert bekommen. Auch in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ist Vermittlung von Medienkompetenz ein großes Problem. Und das wird es auch bleiben, solange Medienerziehung immer nur nebenbei als Anhängsel anderer Fächer geleistet werden soll und nicht von Fachleuten in einem eigenen Schulfach.

„Natürlich sind wir nicht im Geringsten gewappnet“, meint auch KI-Forscherin Hannah Bast mit Blick auf die nächsten Jahre. Eine traurige, aber realistische Einschätzung. Es muss schleunigst daran gearbeitet werden, dass kommende Generationen nicht jedes Mal zu ähnlich deprimierenden Erkenntnissen gelangen, wenn sich die digitale Welt wandelt.

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