Totenstille in der Kieler „Räucherei“, wo die SPD sich eigentlich feiern wollte und nun beerdigungsmäßig herumsteht. Einer redet. Vor innerer Wut bebend, steht Ralf Stegner da und presst kurz nach 18 Uhr erste Sätze aus sich heraus: „Enttäuschend, sehr enttäuschend“, kommentiert der SPD-Landeschef von Schleswig-Holstein das Abschneiden bei der Wahl. Regierungsauftrag? „Wir tun nicht so, als hätten wir die Wahl gewonnen“, knurrt er. Der Bundestrend sei nicht schuld gewesen, schiebt er nach. Und die Arbeit der abgewählten Kieler Küstenkoalition auch nicht. Bleibt nicht viel übrig, außer der Spitzenkandidat der SPD selbst, Ministerpräsident Torsten Albig. Gegen ihn, wen denn sonst, richtet sich Stegners mit Mühe gedeckelter Zorn.
Noch am Sonntagmittag hatte der 53-jährige Regierungschef laut getönt, er werde deutlich vor der CDU abschneiden. „Petrus hat entschieden“, so Albig trotzig. Zum Wochenende war es deutlich wärmer geworden in Kiel. Genau diese fünf Grad Celsius, prophezeite der markante Glatzkopf, sei er am Abend auch in Stimmenanteilen besser als tags zuvor. In Schleswig-Holstein hat jedoch nicht Petrus die Landtagswahl entschieden. Sondern eine Menge Leute zwischen Nord- und Ostsee. Und die hatten andere Pläne. Welche genau, ist unklar: Nach der Wahl sind etliche Bündnisse möglich, eine Ampel, Jamaika, eine Große Koalition. Vieles deutet, wenn man Wünsche und Möglichkeiten zusammenzählt, auf Jamaika hin: eine Koalition aus CDU, FDP und Grünen.
Albig, der seit 2012 mit der Küstenampel regierte, einer Koalition aus SPD, Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW), hat schwer enttäuscht. „Kein Wahlziel erreicht, kein guter Tag“, sagt er am Abend, als der ganze Scherbenhaufen vor ihm liegt. Monatelang lag seine SPD vorne und die CDU dahinter. Nun ist es deutlich andersherum. Die SPD hat klar verloren. Die Schuld trägt Albig größtenteils selbst, er hat es verdaddelt und kann wahrscheinlich einpacken. An personellen Konsequenzen komme man wohl nicht vorbei, meint am Wahlabend Günter Neugebauer, SPD-Mann aus Rendsburg. „Es hat viele Tiefen im eigenen Wahlkampf gegeben.“
Torsten Albig musste eigentlich nur eins tun: nichts falsch machen. Im Land, so die Umfragen, herrschte lange Zeit null Wechselstimmung. Auf seine Koalitionspartner konnte er sich verlassen: Die Grünen, im Bund schwach, sind in Schleswig-Holstein eine sichere Bank, auch diesmal. Vor allem dank ihrer Vorderleute. Koalitionspartner Nummer zwei in der Küstenampel macht auch nie Probleme: Der Südschleswigsche Wählerverband, die Minderheit der Friesen und Dänen, ist ein verlässlicher Partner und genießt das Privileg, keine Fünf-Prozent-Hürde überklettern zu müssen, steuert also immer ein paar Prozent zum Ergebnis bei.
Albigs durchwachsene Vorstellung
Es hätte so einfach und sorgenfrei sein können für Albig. Aber nach der Saarland-Wahl im März verflüchtigte sich spür- und zählbar der Hype um den neuen SPD-Vorsitzenden Martin Schulz. Und dann lieferte Albig selbst in den vergangenen Wochen eine höchst durchwachsene Vorstellung ab: Sein Wahlkampf – „Mehr Gerechtigkeit für alle“ – wirkte so uferlos wie unschlüssig. Einerseits hängte er die moralische Latte extrem hoch, andererseits verwies er sehr pragmatisch darauf, dass eigentlich nicht viel Geld für Nötiges wie Straßenreparaturen, Schulsanierung oder mehr Lehrer oder Polizisten vorhanden sei und alles eine Menge Zeit brauche. Dazu kam seine Fehleinschätzung, den Leuten im Norden nicht nur seine Politik erklären zu müssen, sondern auch noch seine Person, den „Menschen“ Albig.
Vor zwei Wochen servierte der Politiker Albig dem Wahlvolk in einer süßlichen Homestory der Illustrierten „Bunte“ den „Menschen“ Albig. Ein unbegreiflicher Lapsus für einen ehemaligen Berater im Berliner Politikbetrieb. „Dieses Interview!“, stöhnt am Wahlabend SPD-Mann Neugebauer. Redeten die Schleswiger und Holsteiner bis dahin über Flüchtlinge, kaputte Straßen, Schulen mit lecken Dächern, gestiegene Einbruchszahlen oder den Dauerstau auf der A7, war plötzlich alles wie weggewischt. Der „Mensch“ Albig dominierte das Geschehen, und die Norddeutschen kratzten sich am Kopf: Was hatte ihn geritten? In dem hübsch bebilderten Illustrierten-Beitrag – seine neue Freundin Bärbel Boy saß neben ihm – referierte der ehemalige Berater des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück ausführlich die Vorzüge zehntägigen Heilfastens und sprach darüber, wie sehr sich die Freundin über ein Stück „leckeren Parmesan“ freue. Außerdem legte er facettenreich dar, warum seine erste Ehe nach 27 Jahren in die Brüche ging. Seine Begründung dürfte ihn etliche Sympathien in der norddeutschen Damenwelt gekostet haben: Fehlender Austausch „auf Augenhöhe“ mit seine Noch-Ehefrau Gabriele. Er sei beruflich viel unterwegs gewesen, sie in ihrer Rolle als „Mutter und Managerin unseres Haushaltes gefangen“.
Es hagelte Spott und Häme. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, der diesmal ein bärenstarkes FDP-Ergebnis holte, lachte laut beim Lesen und war sich fortan sicher, mit dem Heim-und-Herd-Beitrag habe Albig seine Küstenampel vor die Wand gefahren. In der CDU freute man diebisch über den eitlen Auftritt, bei den Grünen herrschte blankes Entsetzen über Albigs Aussetzer. Plötzlich, ärgerte sich Robert Habeck, sei im Wahlkampf alles wie weg gewesen, keine Inhalte mehr, keine Landespolitik. Viele Leute hätten nur noch darüber reden wollen, welcher Politiker „überheblich“ sei.
Während die SPD am Ende einsank, stieg die CDU auf. Auch eine Überraschung, denn sie hatte über Monate eine miserable Vorstellung geboten und nicht den Eindruck erweckt, in Kiel die Macht zurückerobern zu wollen. Ihr Spitzenkandidat Daniel Günther, 43, war erst im Herbst in diese Position gerückt, nachdem Ingbert Liebing überraschend hingeworfen hatte. So kam der unbekannte Herr Günther aus Eckernförde, Fraktionschef im Landtag, ins Rennen. Er begann aussichtslos, machte gute Miene zum Spiel, stellte sich nicht dumm an, rückte Amtsinhaber Albig immer dichter auf die Pelle und zog am Sonntag vorbei, um ihn abzulösen.